Eigentlich stehen bei Philip Scheffners Filmen die Rahmenbedingungen über der Handlung, dem unmittelbar Abgebildeten. Gemeinsam mit Colorado Velcu, einem Protagonisten aus seinem Film REVISION, erschließt uns Scheffner einen kaleidoskopischen Blick auf eine Roma-Familie, die ihre Reise nach Deutschland angetreten hat und zunächst in Essen landet. Der Regisseur kommt mit der Kamera vorbei, läßt eine andere bei der Familie zurück und wirft die Idee in den Raum, einen gemeinsamen Film zu machen. Es entstehen wackelige Clips von Grillfesten, Möchtegern-Gangster-Szenen, alsbald aber bewußt inszenierte Momente, in denen Colorado das Familienleben und seine Rolle darin darstellt. Er nutzt das Medium zur Selbstreflexion, als Tagebuch, vielleicht auch als Hoffnungsfackel. Seine Frau sitzt in Rumänien im Gefängnis.
Scheffners Arbeitsweise könnte man im Kontext auf die Debatte über Inszenierung und Authentizität im Dokfilm, als eine Bezugnahme auf den Standpunkt von Klaus Wildenhahn begreifen, der die „Wahrheit und Würde“ des Dokumentarfilms nicht „in erster Linie ästhetisch definiert, sondern moralisch und politisch.“ Die gegenwärtigen Möglichkeiten, sich und andere filmisch festzuhalten, Bilder digital zu verfremden und den puren Materialüberfluß an Bildern und Tönen an sich bezieht Scheffner in den Arbeitsprozeß mit ein, macht ihn zur eigentlichen Aufgabe der inhaltlichen Auseinandersetzung. Es gilt, die Vielschichtigkeit des Mediums immer im Blick zu behalten. Die Nähe zu seinen Gefilmten stellt Scheffner nicht über von ihm im Schnittraum erzeugte Emotion her, sondern über eine präzise Hinterfragung der filmischen Entstehung. Der Zuschauer muß die Form bezwingen, will er sich der Erzählung nähern.
Die gemeinsame Aufgabe des Filmprojektes läßt die dramaturgische Dynamik des Films reifen, scheinbar wahllos Alltägliches entwickelt eine ungeahnte Sogkraft. Das Casting für den zu drehenden Film wird zum Reenactment gängiger Klischees, die Orte des Geschehens wechseln scheinbar sprunghaft, genau wie die Familie bald wieder auseinandergerissen wird. Scheffner spiegelt mit der Geschwindigkeit des Bilderflusses ein Gefühl der Rastlosigkeit, das sich mit langem Warten abwechselt. Beides macht das heutige Leben der Roma in Europa aus. Ein Teil von Colorados Familie macht sich nach Spanien auf, um dort mit Erntearbeit Geld zu verdienen, er bleibt mit seinen Kindern in Berlin zurück. Es ist es schwer, Arbeit zu finden, die Mühlen der Behörden mahlen langsam, man braucht Geduld. Und Hoffnung.
D 2016, 94 min
Verleih: Grandfilm
Genre: Dokumentation
Regie: Philip Scheffner
Kinostart: 22.09.16
[ Susanne Kim ] Susanne mag Filme, in denen nicht viel passiert, man aber trotzdem durch Beobachten alles erfahren kann. Zum Beispiel GREY GARDENS von den Maysles-Brüdern: Mutter Edith und Tochter Edie leben in einem zugewucherten Haus auf Long Island, dazu unzählige Katzen und ein jugendlicher Hausfreund. Edies exzentrische Performances werden Susanne als Bild immer im Kopf bleiben ...