Originaltitel: EMILIA PÉREZ

F/USA/Mexiko 2024, 133 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen/Wild Bunch

Genre: Drama, Thriller, Musical

Darsteller: Zoe Saldana, Carla Sofia Gascon, Selena Gomez

Regie: Jacques Audiard

Kinostart: 28.11.24

  • Film des Monats

Emilia Pérez

Kein wahres im falschen Leben – Audiard einmal mehr als genialer Hexenmeister

Man hat im Kino ja schon so einiges aufgetischt bekommen, von dem man sich fragte, wer um alles in der Welt die Idee hatte, das zusammenzurühren. Ingredienzien, die nicht passen, Genres, die nicht harmonieren. Geschichten, die man auf alle möglichen Arten erzählen kann, aber doch bitte nicht so, wie man sie dann in den jeweiligen Fällen erzählt bekommt. Selbst etwas vergleichsweise häufig Versuchtes wie die Tragikomödie entpuppt sich da ja oft als fataler Mix, wenn man sieht, wie schnell Filme bei diesem erzählerischen Balanceakt abstürzen.

EMILIA PÉREZ ist keine Tragikomödie, obwohl die Geschichte dazu das Potential hat und es an dieser oder jener Stelle auch durchscheinen läßt. Und das durchaus geschickt. Allerdings hat Regisseur

Jacques Audiard mit diesem seinem neuen Film einen weit aberwitzigeren Mix anvisiert. Läßt schon die Story ahnen, mit der EMILIA PÉREZ aufwartet.

Als Anwältin in Mexiko bewegt Rita sich auf einer schmalen Grenze zwischen Pragmatismus und Moral. Und das heißt auch zwischen Professionalität und Selbstachtung. Für ihre Kanzlei vertritt die brillante Juristin erfolgreich Kartellbosse, Drogendealer, Vergewaltiger und Totschläger aus der gehobenen Gesellschaft. Das zehrt an der Substanz, zumal das große Geld, das es dabei zu verdienen gibt, vorrangig in die Taschen von Ritas Chef fließt. Es ist also nicht wirklich verwunderlich, daß Rita sich auf ein Angebot einläßt, das Risiken birgt – und einen Befreiungsschlag verspricht. Und das nicht nur für sie: Manitas del Monte heißt der millionenschwere Boß eines Drogenkartells, der auf Ritas Fähigkeiten setzt. Manitas will aussteigen, ein neues Leben beginnen. Ein radikal neues Leben. Also nicht nur eines fern des Verbrechens, sondern als völlig neuer Mensch. Und das heißt vor allem, ein Leben in jener geschlechtlichen Identität, die Manitas seit jeher als seine wahre empfindet. Manitas’ Traum: die Frau werden, die es tief im eigenen Inneren immer zu verbergen galt. Ritas Aufgabe: Die richtige Koryphäe für eine Geschlechtsumwandlung finden und damit einhergehend die gesellschaftliche Transformation Manitas’ ins neue, ins dann wahre Leben vorbereiten.

Die Verwandlung wird tatsächlich gelingen. Aus Manitas del Monte wird Emilia Pérez. Doch ist das nur der Anfang dieses Films, der in seiner Essenz nicht nur davon erzählt, was es heißt, daß es kein wahres im falschen Leben geben kann, sondern der auch fragt, was dieses Wahr und dieses Falsch, was dieses Etwas, das wir Identität nennen, überhaupt ist. Nichts Statisches jedenfalls, das ist schon mal klar. Und weil dem so ist, bewahrt auch Audiard seinen Film vor statischen Zuschreibungen, indem er diese aberwitzige Geschichte auf die für sie aberwitzigste, auf die unmöglichste aller möglichen Arten inszeniert: nämlich tatsächlich und allen Ernstes als Musical!

Aber als was für eins! Dudeldei à la Andrew Lloyd Webber muß hier keiner fürchten. Schon weil die Musik mit ihrem kräftigen Ranchera- und Latino-Touch um Welten vitaler, treibender, origineller ist. Und weil Audiard dazu die sich schnell beißenden Ingredienzien aus Tragik und Komödie, Telenovela und Psychogramm, Thriller und Melodram, aus Realismus und Fabulierlust, aus großen Gefühlen und menschlichen Abgründen wie ein zwar verrückter, aber immer die Oberhand wahrender Hexenmeister in seiner Alchemistenküche verrührt und brodeln läßt.

Das funktioniert selbst dann noch frappierend glaubwürdig, wenn Audiard die Emotionsglut bis zum Maximum anheizt. Wenn der ja auch von Frau und Kindern für tot gehaltene Manitas, getrieben von einer unstillbaren Sehnsucht, nach Jahren seine Familie besucht. Als die freundliche, aber allen völlig unbekannte Tante Emilia. „Du riechst wie Papa“, sagt zu der einmal die kleine Tochter in aller Unschuld. Was für ein Moment! Denn ja: Auch im neuen, im wahren Leben läßt einen das alte, das falsche, das man floh, nicht los. Weil wahr und falsch keine statischen Begriffe sind. Weil man ist, was man ist. Was immer das auch sein mag.

[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.

Emilia Pérez ab heute im Kino in Leipzig