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Café Belgica

Fausthiebballade über Sehnsuchtsorte und Brüderlichkeit

Es ist vom ersten Moment an ein waschechter Felix-van-Groeningen-Film. Jo schlurft zerknittert mit Kifferblick in die Küche, ein gleichsam ungebügeltes Mädchen folgt ihm, das Café Belgica sei an sich nicht ihr Laden, es stinkt nach Klo, und dann die Frage aller Frage nach wilden Kneipennächten, die auf Matratzen enden: „Lief da gestern was?“ Jos Antwort ist an Beiläufigkeit nicht zu toppen: „Spürst Du es nicht? Fistfuck ...“ Das ist der unverstellte Ton, der derbe, freche und dennoch hintersinnige Humor, der für die Wildheit, Sehnsucht und Verletzlichkeit von van Groeningens Figuren steht, der schon THE BROKEN CIRCLE auszeichnete.

Und wieder wird ein Familienbündnis auf die Probe gestellt, dieses Mal erzählt der belgische Filmemacher von zwei Brüdern, die unterschiedlicher nicht sein können: der kleine Jo und der große Frank. Ersterer eher ein musisches Kind, das auf Umwegen dazu kommt, seine erste Kneipe zu übernehmen und richtig groß zu machen. Frank hingegen ein Hallodri, ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen, der mit Autos handelt, kühne Pläne hat, ein Typ der wilden Träume, der großen Gesten, Rock’n’Roller eben. Genauso eine Type braucht Jo aber, einer, der ohne lange zu quatschen das durch Tampons verstopfte Klo in der Kneipe repariert, der übersprudelt vor Ideen, der irgendwie getrieben ist. Deswegen: ein Handschlag, Fifty Fifty, eine Annäherung zweier Brüder, die sich in der Zerrissenheit ihrer Familie aus den Augen verloren, die nun Partner werden, um vielleicht als Feinde zu enden.

Der Eifer beeindruckt, diese Energie des Neuanfangs, die irren Ideen, die aus dem Belgica den Laden der Stadt werden lassen, diese Chuzpe, mit der die Jungs Falschparker nicht abschleppen, sondern einfach wegtragen. Los geht der Ärger aber, wenn Frank eben wieder Frank ist, Behörden besticht, Jo hintergeht, und seine Einlaßpolitik keine ist. Nicht mehr zu bändigen ist der Abwärtslauf, als es auf dem Tresen weitaus häufiger Pulver schneit als in St. Moritz.

CAFÉ BELGICA ist sauehrliches Faustschlagkino, hier wird nichts aufgehübscht, van Groeningen schaut mit schnörkellosem Blick in an sich ganz normale Leben, wozu manchmal Dreck, Abgründe und Wahnsinnsenttäuschungen gehören. Er tut dies mit einer grundfesten Sympathie für seine Protagonisten, das steckt an, allerdings sieht man auch das Unheil aufziehen, als Koksnasenrocker mit billigen Joan-Jett-Kopien im Schlepp auftauchen, die reine Selbstbedienung am Tresen herrscht, die Gäste mit „mehr Eis, weniger Schnaps“ beschissen werden, und Frank die Blondinen im Akkord vögelt.

Ja, so kann man „Familienkino“ heute erzählen, CAFÉ BELGICA zeigt einen Sehnsuchtsort, an dem man all seine Sorgen vergessen kann. Und Sorgen gibt es derzeit im Überfluß. Kein Wunder also, daß die Sau rausgelassen wird, daß sich schließlich beide Brüder wie kleine, depperte, koksende und fickende Idioten benehmen. Bis die Dekadenz übernimmt und die Ehrlichkeit flöten geht. Van Groeningen spielt dabei nicht in Schwarzweiß, es gibt keine reinen Engel und wahren Bösewichte, Jo und Frank hängen in den Fesseln der Vergangenheit fest, umso schmerzlicher ist es zu sehen, wie etwas derart Profundes wie dieser wunderbare, schroff-zärtliche Bruderbund droht, vor die Hunde zu gehen.

CAFÉ BELGICA ist ein Paradefilm darüber, wie kompliziert es heute ist, seinen Platz zu finden und sich an diesem dann auch zu bewähren. Leben ist halt schwer, und oft hilft nur eins: auf die Fresse fallen und sich dennoch sicher sein zu können, daß man im tiefsten Suff von seinem Bruder nach Hause geschleppt wird, selbst wenn man ihm auf die Schuhe kotzt.

Originaltitel: BELGICA

Belgien/F 2015, 127 min
FSK 12
Verleih: Pandora

Genre: Drama

Darsteller: Stef Aerts, Tom Vermeir

Regie: Felix van Groeningen

Kinostart: 23.06.16

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.