Fast nichts ist im Filmgeschäft so verläßlich wie die belgischen Dardenne-Brüder, Jean-Pierre und Luc. Sie stehen für eine ungewöhnliche Kontinuität, was die Solidität ihrer Werke betrifft, aber auch ihre Themen, Stammschauspieler (wie Jérémie Renier), schließlich ihre regelmäßigen Erfolge bei den Filmfestspielen in Cannes. Und wer sollte es den dortigen Preisrichtern verdenken, daß sie immer wieder die Dardennes ehren, dieses Mal mit dem Jury-Preis. Hier hat man, wie sonst so oft, gewiß nicht das Gefühl, die Auszeichnung sei nur ein Kompromiß oder eine Kompensation für eine andere verpaßte Gelegenheit, den entsprechenden Filmemacher zu würdigen. So wie wir Menschen ins Leben geworfen werden, so schmeißen uns die Dardennes in die Filmhandlung. Expositionen sind ihnen fremd, ebenso wie schweres psychologisches Gepäck, jene strickmusterhaften Hintergrundgeschichten, die die Geschichte im Vordergrund motivieren sollen. Kino vom Hier und Jetzt. Ein Kino der Unmittelbarkeit, das keinerlei Sensationen braucht, um sofort in den Spannungsbogen aufzuschlagen.
Den ganzen Film hindurch bleiben wir einem einzigen Charakter dicht auf den Fersen: Cyril, einem 12jährigen Blondschopf, ein Unruhegeist, der durch jede Hand schlüpft, die ihn zu halten versucht, der voller Wut ist. Ein Revoluzzer im Kinderheim. Cyril sucht seinen Vater, der ihn erst ins Heim gebracht hat und nun umgezogen ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Der Fall ist klar, dieser Vater hat kein Interesse mehr an ihm. Doch klar ist auch, der Sohn wird nicht aufgeben. Auf seinem Weg gibt es zudem die Friseurin Samantha, die ihm vielleicht einen Teil der Liebe geben könnte, die er so verzweifelt vom Vater verlangt. Und einen Dealer, der einen Plan hat mit Cyril. Und das Fahrrad, der einzige Platz, an dem er bei sich ist. So einfach, so überzeugend.
Der Geschichte einer Besänftigung verhilft Thomas Doret als Cyril durch seine zwingende Präsenz zum Leben. Daß sich hier ein Verlassener abstrampelt, um menschliche Bindung zu erfahren, paßt natürlich zum bekannten Themenfeld der Dardennes. Auch in L’ENFANT hatte ein Vater sein Kind weggegeben wie einen Gegenstand. Während DER SOHN davon erzählte, wie selbst unter drastischen Bedingungen auch ohne Biologie Verwandtschaft entsteht. Die spannende Frage in DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD aber ist: Wann hat Cyril sich abgestrampelt, und wo, in welchem Milieu, ist er dann gelandet?
Originaltitel: LE GAMIN AU VELO
Belgien/F/I 2010, 87 min
FSK 12
Verleih: Alamode
Genre: Drama, Poesie
Darsteller: Thomas Doret, Cécile De France, Jérémie Renier
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Kinostart: 09.02.12
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...