Was geschah in jenem Sommer 1999 in Frankfurt/Oder, als zwei kleine Kinder vierzehn Tage lang von ihrer Mutter allein gelassen wurden und verdursteten. Als die Nachbarn die Schreie der Geschwister überhörten, die in einer zugemüllten Neubauwohnung ums Überleben kämpften und sich gegenseitig bissen. Tragisches Unglück oder kaltblütiges Verbrechen? Die Todesstrafe müsse wieder her, forderten während des Aufsehen erregenden Prozesses damals viele erhitzte Gemüter. Aber war die offenbar überforderte Mutter allein verantwortlich für dieses Unglück? Oder waren hier wichtige institutionelle Säulen weggebrochen, die Daniela Jesse hätten auffangen können: die Familie, die Behörden, die Gesellschaft ...
Heute wollen sich die Anwohner dazu nicht äußern, als die Regisseurin Aelrun Goette mit der Kamera in der Stammkneipe anrückt. Das sei kein Thema - man könne so einer nicht in den Kopf schauen. Goette versucht es trotzdem. Sie nähert sich ihrem Gegenstand von außen, indem sie das Gelände dokumentarisch abtastet. Tatort Plattenbausiedlung Neuberesinchen, Stadtrand. Die triste Atmosphäre des Ortes vermittelt etwas von der Leere, die Daniela Jesses Kopf nach eigener Aussage ausfüllte. Vereinzelte Menschen in einem Meer aus Fenstern. Stimmenhallende Treppenhäuser, von denen die Tapete bröckelt. Alles wirkt so unpersönlich, daß man sich kaum noch wundert, wie so etwas unbemerkt geschehen konnte. Die Kinder waren immer laut, sagen die Nachbarn. Die Einblicke, die man in ihren Alltag hinter den Fenstern bekommt, zeigen zugleich das Leben, das Daniela Jesse heute noch führen würde.
Aber es wäre zu einfach, alles auf die sozialen Umstände abzuwälzen. Der Film macht deshalb rechtzeitig einen doppelten Zeitsprung: Aufnahmen aus dem Gerichtsprozeß leiten über in eine Art Parallel-Gegenwart: Daniela Jesse heute in ihrer Gefängniszelle. Briefe sind ihre hauptsächliche Verbindung zu ihrer Mutter und ihrer noch verbliebenen Tochter. Die Mutter hält das Urteil für gerecht. Liebe habe die Daniela immer genug bekommen. Jetzt sei Strafe dran. In einer Parallelmontage werden ihre Aussagen über die familiären Hintergründe miteinander konfrontiert. Ein tiefes Trauma, eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung zeigt sich an. Am Ende tritt der Film etwas auf der Stelle. Näher kommen wir nicht heran - eine Lösung gibt es nicht. Dafür ist eine komplexe und eindringliche Annäherung an die menschliche Tragödie gelungen. Mehr kann man von einem Dokumentarfilm kaum verlangen.
D 2003, 80 min
Verleih: Ventura
Genre: Dokumentation
Regie: Aelrun Goette
Kinostart: 11.03.04
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...