Es hätte auch ein rundum gelungener Männer-Familienausflug werden können: ein Vater, seine zwei Söhne und jede Menge Abenteuerromantik. Mit Angeln, Zelten, Lagerfeuer, einer einsamen Insel, schwindelerregenden Türmen, einem Schiffswrack und einem verborgenen Schatz. Wäre man sich nicht so verdammt fremd. Und wären da nicht die offenen Erwartungen und Fragen aneinander, die nie eingelöst werden. Den Vater hat es bisher nur auf dem Foto gegeben.
Eines Tages steht er plötzlich in der Tür und nimmt Iwan und seinen großen Bruder Andrej im Auto mit auf eine Reise durch Nordrußland. Für drei Tage verabschieden sie sich von der Mutter. Daraus wird eine Woche, denn der Vater hat noch etwas zu erledigen. Sein Ziel bleibt geheim. Seine Vergangenheit ist ein Buch mit sieben Siegeln. Wer ist dieser unnahbare Mann, der bald übersteigerte Strenge, bald eine liebevolle Ader durchblicken läßt? Er könnte ein Mörder sein, sagt Iwan. Er ist der Vater, dem man Respekt zollt, denkt Andrej. Der Versuch der Brüder, ein eindeutiges Gefühl für diesen Vater zu entwickeln, scheitert auf tragische Weise.
Andrej Swjaginzew erzählt in seinem vielfach preisgekrönten Erstling auf hohem künstlerischen Niveau von einer packenden und geheimnisvollen Reise ins Unbewußte, ohne die Ebene der Realität zu verraten. Die Figurenzeichnung ist unter den gegebenen sozialen und psychologischen Umständen genau und treffend. Bisher dominierte der Vater nur durch seine Abwesenheit. Nun haben alle drei so viel nachzuholen, daß sie sich in dem angespannten Ringen um Liebe und Haß, Vertrauen und Abneigung nur mißverstehen können.
Während der kleine bissige Iwan, dessen Perspektive weitgehend den Film bestimmt, der neuen Autorität den Kampf ansagt, versucht Andrej, den Vater als Vorbildfigur einzusetzen. Zugleich verweisen die Bilder an jeder Stelle über sich hinaus auf eine komplexe symbolische Ebene. Geradezu archetypisch und von einer ganz eigenen Raum- und Zeitdynamik erscheint die herbe Schönheit der Wälder, Seen und Inseln. Ebenso die bildhaften Eindrücke vom Vater, die sich sofort in Erinnerungsbilder zu verwandeln scheinen. Sie sprechen von der Verinnerlichung und Überwindung dieser Figur im Prozeß des Erwachsenwerdens. Das Geheimnis des Films besteht neben der hervorragenden Kameraarbeit und dem großartigen Schauspielerteam in seiner Art, das Rätselhafte der Handlung nicht aufzulösen. Ein Muß für jeden Kinofreund.
Originaltitel: WOSWRASCHTSCHENIJE
Rußland 2003, 106 min
Verleih: Movienet
Genre: Drama, Erwachsenwerden
Darsteller: Wladimir Garin, Iwan Dobronrawow, Konstantin Lawronjenko
Regie: Andrej Swjaginzew
Kinostart: 01.04.04
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...