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Les Sauteurs – Those Who Jump

An der Mauer, auf der Lauer …

… liegen die jungen Männer, vor denen Europa so viel Angst hat. Sie kommen aus Mali oder von der Elfenbeinküste. Sie sind lebenshungrig und leidensfähig. Sie sind viele. Und sie haben sich durchgeschlagen zum Berg Gurugú in Marokko, in Sichtweite zur spanischen Exklave Melilla, jenem Stück „Europa auf afrikanischem Land.“ Melilla gehört als geopolitischer Sonderfall zu den schmerzhaftesten Brennpunkten der Flüchtlingskrise. Nicht, weil das Leid größer wäre als auf den schwimmenden Todesfallen im Mittelmeer. Schmerzlich ist vielmehr die absurde „Nähe“ zum Sehnsuchtsort Europa: Kein Meer, kein endloser Landweg behindert die Reise, denn zumindest die Eingangstür zum gelobten Kontinent liegt nur einen Menschensprung entfernt.

Dieser Sprung, der drei gigantische Zäune samt Wachleuten und ausgefeilter Observierungstechnik zu überwinden hat, ist die existentielle Mutprobe, der sich die ungebetenen Gäste von Mont Gurugú stellen. Den Filmemachern Moritz Siebert und Estephan Wagner schwebte wohl eine der üblichen dokumentarischen Orts- und Schicksalsbegehungen vor, als sie hierherkamen. Doch auch sie unterzogen sich einer Mutprobe, nämlich der, die Kontrolle über ihren Film mit einem Fremden zu teilen. Im Unterholz des Gurugú, zwischen Decken und Plastiktüten, trafen sie auf den Flüchtling Abou Bakar Sidibé – und übergaben ihm die Kamera. Der Englischlehrer aus Mali, nunmehr dritter Filmemacher im Bunde, setzte seine eigenen Akzente: Hygiene im Ausnahmezustand, Männergespräche über europäische Frauen und ebensolche Seifen, die dem afrikanischen Körper die Hautfarbe auszuwaschen imstande sind, Wundversorgung nach gescheiterten Sprungversuchen, Seelentröstung nach tödlichen Zwischenfällen, gefilmt mit all den Duck- und Ausweichbewegungen, die hier das Überleben sichern.

Wären die Bilder ohne diesen Sidibé andere geworden? Hätten sie schöner, wahrhaftiger sein können? „Found Footage“ war gestern, der „Found Filmmaker“ ist heute. Und „gefunden“ bedeutet im Fall von Abou Bakar Sidibé keineswegs „aufgelesen.“ Im Off-Kommentar reflektiert er sein eigenes Tun, nämlich als Replik auf Descartes. „Ich filme, also bin ich“, sagt er, und bemächtigt sich der (Bild-)Hoheit über das eigene Schicksal. Es ist auch ein Weg, den entpersönlichten Observierungs- und Infrarot-Aufnahmen von der Grenzanlage ein Stück konkretes Leben entgegenzusetzen.

Originaltitel: LES SAUTEURS

DK 2016, 79 min
FSK 12
Verleih: Arsenal Institut

Genre: Dokumentation, Polit

Regie: Moritz Siebert, Estephan Wagner, Abou Bakar Sidibé

Kinostart: 17.11.16

[ Sylvia Görke ]