Ist vielleicht die beste Art, sich einem zum Mythos überhöhten Menschen anzunähern: den Menschen einfach in jener Zeit zu suchen – oder zu erfinden – in der dieser erst begann, sich selbst zu erfinden. In der er erst begann zu werden, als was man ihn heute wahrnimmt und kennt. Oder zu kennen meint. Um John Lennon geht es in Sam Taylor-Woods Regiedebüt NOWHERE BOY. Um John Lennon, bevor er John Lennon wurde. Um einen Teenager, normal verrückt, oder auch etwas verrückter, als es normal war, damals Mitte der 50er im Liverpooler Stadtteil Woolton.
Dort lebt der 15jährige John bei seiner distinguierten Tante Mimi und ihrem liebenswert spinnerten Mann George. Und was der ob seiner Wesensart vielleicht half, im Zaum zu halten, bricht auf, als das Unglück geschieht: Beim Herumalbern erleidet George einen Herzinfarkt. Wenig später kehrt Mimi aus dem Krankenhaus zurück, steht steif und still in der Küche und erklärt John furchtbar gefaßt: „Jetzt gibt es nur noch uns. Wir müssen einfach weitermachen.“
Was für eine Szene! Was für eine Exposition. Großartig, wie NOWHERE BOY da Beziehungen skizziert und psychische Gemengelagen anreißt. Denn natürlich funktioniert dieses „einfach weitermachen“ nicht – auch deshalb, weil John plötzlich erfährt, daß es eben nicht nur ihn und Tante Mimi gibt. Keine Stunde von deren Haus nämlich lebt Julia, Johns Mutter …
Der Beginn einer Annäherung, die zur emotionalen Berg- und Talfahrt für John wird. Alles an losen Empfindungen, diffusen Ängsten und Hoffnungen verdichtet sich dabei zu einem Kraftfeld, das den Jungen zunehmend über die engen Grenzen eines Lebens in Woolton/Liverpool hinaustreibt. Rock’n’Roll heißt dieses Kraftfeld. Und die Liebe zum Rock’n’Roll verdankt John seiner Mutter, dieser manchmal so gleichzeitig lebenshungrigen und daseinsmüden Frau, die ihren Sohn in Hafenbars schleppt, in der aus der Jukebox jene Musik dröhnt, die Julia mit einem einfachen Wort umschreibt: Sex.
Und was könnte motivierender sein für einen Teenager? Lennon gründet mit ein paar Kumpels seine erste Band. Bald stehen auch McCartney und Harrison mit auf der Bühne – und kurz fürchtet man, der Film würde jetzt doch noch zum Gründungs-Mythos-Hohelied. Aber nein: Sam Taylor-Wood verrät ihre Geschichte nicht. Sie erzählt sie zu Ende. Hin zum großen Verlust, den John erfahren wird, und zum großen Aufbruch, der darauf folgt.
Originaltitel: NOWHERE BOY
GB 2009, 98 min
FSK 12
Verleih: Senator
Genre: Biographie, Erwachsenwerden, Musik
Darsteller: Aaron Johnson, Kristin Scott Thomas, Anne-Marie Duff, Thomas Brodie Sangster
Regie: Sam Taylor-Wood
Kinostart: 09.12.10
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.