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Poem

Hinken auf allen Beinen: Poesie an Bilderkrücken

Dort, wo die Dichtung am dichtesten ist, heißt sie Lyrik. Aus den Gefilden der Werbe- und Musikclip-Industrie schlug sich Regisseur Ralf Schmerberg zum vielleicht unzugänglichsten Ort der Literatur durch, erschloß sich Gedicht um Gedicht das unsichere Gebiet zwischen Goethe, Rilke, Jandl und Müller und entdeckte nach eigenen Angaben - wer hätte das gedacht? - das Wort. Aus der Entdeckung sollte ein Werbefilm für die Poesie werden - Bildersprache für die Sprachbilder von 19 Gedichten.

So übersetzt lautet Heines "Der Schiffbrüchige": Brandauer deklamiert, sein Gesicht in Großaufnahme, schwarz/weiß, ohne Schnitt. Obwohl kaum beseelt von cineastischem Erfindergeist, behauptet sich diese Episode in ihrer visuellen Zurückhaltung als nahezu einziger Raum, in dem Schmerberg "das Wort" wirklich zum klingen bringt. Dabei will es sich doch an Drehorten in der ganzen Welt, unter den Augen renommierter Kamera-Leute Gehör verschaffen! Aber zwischen Regisseur und Lyrik brüllt ein Mißverständnis: Schmerberg nimmt die Vieldeutige beim Wort. Während Celan sein "Tenebrae" spricht, um einen Gott verdammt noch mal das Beten zu lehren, sieht man eine andalusische Osterprozession.

Meret Becker freut sich zu Mascha Kalékos "Sozusagen grundlos vergnügt" auf einer Bühne mit verkleideten Kindern um die Wette. Einfall und Einfalt kommen sich oft bedenklich nahe: Wenn eine Mutter vor ihrer kreischenden Familie in einen riesigen Luftballon flieht, um mit Ingeborg Bachmanns "Nach grauen Tagen" um Ruhe und Freiheit zu bitten, so nimmt man die Trivialität für die gelungene Pointe noch gern in Kauf. Angesichts blinder Zwillinge im fernen Vietnam, denen mit Tucholsky "Einmal müssen wir auseinandergehn" prophezeit wird, wünscht man sich dagegen an den noch ferneren Südpol.

Eine Art Rahmenhandlung in Tibet versucht verzweifelt, die Gedichtsammlung in edles Leder zu binden. Eine farbige (!) Geschlechterschlacht nutzt sich an der abgenutzten "Ode an die Freude" ab. 19 ambitionierte Visionen führen sich schließlich mit viel Aufwand selbst ad absurdum: Man will und will die Augen schließen, um endlich zu den Bildern zu kommen.

D 2003, 91 min
Verleih: Ottfilm

Genre: Poesie, Experimentalfilm, Literaturverfilmung

Darsteller: Meret Becker, Jürgen Vogel, Herman van Veen, David Bennent, Klaus Maria Brandauer, Smudo

Stab:
Regie: Ralf Schmerberg
Drehbuch: Antonia Keinz

Kinostart: 31.07.03

[ Sylvia Görke ]