Dieser Film beginnt um die Mittagszeit. Das weiß man nicht etwa, weil die Sonne hoch stünde. Die scheint anderswo. Aber der Hunger meldet sich. Lidia schneidet einer Taube aus ihrer Zucht den Kopf ab. Sie überbrüht sie, rupft die Federn und grillt den Kadaver über der Flamme des Gasherdes. Dann schimpft sie mit ihrem Sohn Razvan, der das morgens mitgegebene Geld im Laufe des Schulvormittags eingebüßt hat. Schließlich macht sie sich auf zur Arbeit: eine Autobahnbrücke in einem Vorort von Bukarest, wo ein Blowjob 40 Lei kostet, mit Verhandlungsgeschick 30, in Euro knapp 7.
Das Messer im Taubenhals bleibt das drastischste Bild in Alexandra Balteanus Langfilmdebüt. Obwohl sich Drastischeres leicht hätte finden lassen – in Reportagen über osteuropäische Straßenstriche, in Berichten von Vergewaltigungen, von Mittelklassemännern in Mittelklasseautos, die im Schutz der Anonymität die Grenzen vom Kunden zum König mit aller Macht auskosten, in den Kartographien sozialer Klippen, an denen „solche“ Mädchen ins Fallen kommen. Doch die in Rumänien geborene und in Deutschland ausgebildete Regisseurin verweigert sich dem Aufschrei mit Kamera und dramaturgischen Eskalationen – um etwas zu zeigen, das einem tatsächlich die Kehle zuschnürt. Anders, leise, aber mit eisernem Griff. Ihr erzählerischer Modus ist der des Alltäglichen, der einer eingeübten, fortgesetzten, immer schon gewesenen Routine, in der Alternativen nicht mehr denkbar sind. Freilich infiziert von jenem Bild der geschlachteten Taube, in dem Banalität und metaphorisches Ausgreifen so unheilvoll zusammentreffen.
Zwischen Verkehrslärm, Abgasen, Imbißdunst und abgestandenem Zigarettenrauch inszeniert Balteanu einen 24-Stunden-Milieu-Shortcut in bescheidener Spielfilmlänge am Beispiel dreier fiktiver „Sexarbeiterinnen“, der – quasi summarisch – das Rotlichtflair auf Graustufen herunterbricht. Unter der zugigen Brücke wird die Strickjacke gegen ein figurnahes Shirt getauscht. Die Männer in den Autos sind so ungewaschen, wie ein Arbeitstag das eben erlaubt. Die Geschichten der Frauen bleiben so anerzählt, wie das in einem Gelegenheitsgespräch unter flüchtigen Passanten möglich ist. Richtig, die absichtsvoll ausgeschlagenen kinematographischen Möglichkeiten, dieses Tagesgeschäft zum Ausnahmefall zu adeln, machen diesen Film besonders: ein Kunststück der Unterlassung.
Originaltitel: VÂNĂTOARE
D 2016, 75 min
Verleih: Grandfilm
Genre: Drama, Schicksal
Darsteller: Corina Moise, Iulia Lumânare
Regie: Alexandra Balteanu
Kinostart: 07.12.17
[ Sylvia Görke ]