[ 02.03.2011 ] Da gab es nix zu meckern, der 61. Jahrgang des Festivals hatte einen Auftakt nach Maß. TRUE GRIT von den Coen-Brüdern durfte das Eröffnungszeremoniell würdig bestreiten, und auch der vielleicht schönste Film der Berlinale lief gleich zu Beginn – als Eröffnungsfilm vom Panorama, der Programmsparte, die sich auch als Plattform des queer and gender cinema versteht, wozu Célina Sciammas herzzerreißend schöner Film TOMBOY wunderbar paßt. Er erzählt die Geschichte von der zehnjährigen Laure, die mit ihren Eltern und der kleinen Schwester mal wieder umgezogen ist. In der neuen Gegend weckt das jungenhafte Kind das Interesse der nur etwas älteren Lisa – und stellt sich als Mikaël vor. Sciamma erzählt behutsam, mit Witz und großer Empathie von einem Kind auf Identitätssuche, von einem noch ganz jungen Menschen, der durch das, was er da gerade losgetreten hat, selbst verwirrt und auch ängstlich ist. Angst hat Mikaël vor allem davor, daß er enttarnt wird – beim Fußball, beim Sitzpinkeln oder wahrscheinlicher noch beim Baden, was zu einer der rührendsten, wenngleich auch komischsten Szenen führt, in der sich Laure einen Ersatzpenis aus Knete formt, der die Badehose ausbeulen soll. Durch die genaue Figurenzeichnung fühlt man als Zuschauer mit Mikaël richtig mit, kann geradezu spüren, welche Lust an der neuen Rolle mit welcher Last verbunden ist. Für das Kind ist es der schönste Sommer seit langem, wenn nur nix rauskommt ... Toll ist das Zusammenspiel der Schwestern im Film, geradezu eingebrannt hat sich dabei das Talent der Darstellerin Zoé Heran, die Laure und Mikaël ihr Gesicht gibt. Das Ende bleibt dabei recht offen, was gut ist, weil man doch ohnehin ahnt, daß in vielleicht zehn Jahren das bisher Spielerische sich dann als das Lebensnotwendige behaupten muß.
An dieser Stelle setzt ROMEOS ein, ein ganz ungewöhnlicher deutscher Film, ebenso mit Gender-Thematik. Der Regisseurin Sabine Bernardi gelingt dabei ein Kunststück, das auch beim Publikum der Berlinale zündete: Man glaubte, eben weil sich ihre Geschichte so echt ansieht und anfühlt, daß sie tatsächlich mit einem FTM (Female-To-Male) gedreht hat. Hauptdarsteller Rick Okon aber erzählte dann, wie es eben war, in einen fremden Körper und im Brust- und Hüftbereich in eine Kunststoffhülle zu verschwinden. Hier verschmelzen also Kunst und Wirklichkeit, der Zuschauer vergißt, daß er eine Kinogeschichte erzählt bekommt, was sehr reizvoll ist, weil es eine gewisse Distanzlosigkeit auch zum Sujet und ohne Zweifel die große Identifikationsmöglichkeit mit einem Menschen bietet, dessen Schicksal dabei mit dem eigenen erst einmal so wenig zu tun hat. Doch worum geht es genau?
Lukas kommt zum Zivildienst ins Internat, durch Behördenignoranz wird er ins Schwesternwohnheim verfrachtet. Herausforderung, Qual und Risiko für den 20jährigen, denn auf den ersten und auch auf den zweiten Blick ist Lukas rein äußerlich ein Junge, von seiner Bestimmung sowieso, aber die Eierstöcke hat er noch, und die Brüste kommen erst in elf Wochen ab. Daß er sich dann auch noch in den Prollmacho und Allesvernascher Fabio verliebt, macht die Sache noch komplizierter und den Film zu einer der frischesten Liebesgeschichten seit langem ... All die Zerrissenheit, die Versteckspiele und auch dieser Selbstekel zum Beispiel beim Onanieren werden greifbar, all die behördliche Unsensibilität und das Kastendenken hinterlassen Wut und heben diesen Film aus der Flut der Filme hervor. Hoffnungsvoll stimmt dabei trotz aller bestehenden Probleme für Transsexuelle, daß durch wachsende Akzeptanz und durch Neugier, was die Genderthematik betrifft, dem Kino endlich neue Geschichten zugeführt werden.
Wie ein groß angelegtes Planspiel der Verführung gibt sich der argentinische Film AUSENTE. Martin erdenkt sich eine Kette aus unglücklichen Umständen, um seinem Schwimmlehrer näherzukommen. Der lebt an sich in einer intakten Beziehung mit einer Frau, fühlt sich aber von seinem Schüler durchaus angezogen. Nur umzugehen damit weiß er nicht ... Ein geradezu sinnlicher Film, der von Blicken, Gesten, kleinen Berührungen und Fantasien lebt, der sich ein paar Momente Hitchcock-Touch leistet, und der am Ende ein gar zu Tränen rührendes Drama wird, das viel von unterdrückter Sehnsucht und vergebenen Chancen erzählt. Und von der Fatalität des Banalen: Eine Ohrfeige zerstört Aufgebautes, verhindert Schönes, birgt Tödliches in diesem nachgehenden Werk von Marco Berger.
Seinen bisher reifsten Film hat der Deutsche Jan Krüger mit AUF DER SUCHE präsentiert. Anders als in RÜCKENWIND (2009) wirken in seiner neuesten Arbeit die Figuren nie unmotiviert, und außerdem standen ihm diesmal tolle Schauspieler zur Verfügung. Corinna Harfouch und der junge Nico Rogner spielen auf Augenhöhe ein Paar wider Willen. Valerie macht sich in Marseille auf die Suche nach ihrem verschollenen Sohn, Jens gesellt sich nach etwas Sträuben ihr zur Seite, er und Simon waren einst Liebende. Die Spur führt nach Marokko ... Man muß Harfouchs Gesicht einfach sehen! Wie sie im Mutterinstinkt „Irgend etwas stimmt nicht ...“ sagt, wie sie all die Sorge, das Leid um den verloren geahnten Sohn ausdrückt, das geht nah, das berührt durch große Schauspielkunst. Der Film wirft interessante Fragen auf: Warum entfernen sich Menschen? Wieviel oder besser wie wenig wissen die Eltern an sich über ihre entwachsenen Schützlinge? Somit wird das Drama auch zum Film über Entfremdung. Staunenswert ist, daß AUF DER SUCHE trotz seines sehr traurigen Endes etwas verblüffend Leichtes hat. Das mag daran liegen, daß Krüger Deutschland verließ, seine Kamerafrau Bernadette Paassen das Licht der Provence geschickt einfing, vor allem aber liegt es an den gut geschriebenen Dialogen und – nochmals – am Spiel der beiden Hauptdarsteller. Da paßt jedes befreiende Lachen zu den Tränen am Schluß, jede innerliche Entfernung zur in Momenten aufblitzenden Distanzlosigkeit, da wirkt vieles wie der Seelenflirt einer Zwangsgemeinschaft. Stark!
Wie sich ein junger Mensch komplett verlieren kann, davon erzählt der auch optisch beeindruckende polnische Film SUICIDE ROOM. Dominik ist ein typisches Wohlstandskind, von seinen Eltern kriegt er alles: Computer, Markenklamotten, Geld, Chauffeur. Nur für Liebe reicht es nicht mehr. Oder wie sich die Eltern in ihrer egozentrischen Ohnmacht, in ihrer karrieregeilen Selbstbezogenheit entblößen: „Wir haben doch unser Bestes gegeben!“ Damit wird der Film zum Spiegel der Gesellschaft: In einer Welt, wo sich Lieblosigkeit immer größeren Raum verschafft, können es viele Menschen schlichtweg nicht besser. Dominik geschieht ein „Mißgeschick“: Beim Ringen mit dem von ihm angehimmelten Alex ist er so erregt, daß er ejakuliert. Diskretion kennt die sich am Geltungswahn besaufende Jugend oft nicht mehr, über Facebook und YouTube erfährt die ganze Schule davon. Dominik gerät in geradezu körperliche Not, er verzieht sich immer häufiger in sein Zimmer und entdeckt im Internet einen virtuellen Tummelplatz, der ihm als eine Art Avatar eine zweite Identität verschafft. Dieser Club verheißt jedoch nichts Gutes: der Suicide Room.
Interessant ist, wie es dem noch jungen Regisseur Jan Komasa gelingt, Realbilder und animierte Sequenzen zu verknüpfen, wie nahezu „strategisch“ er vom Untergang eines jungen Menschen erzählt. Dominik ist dabei alles andere als ein Sympathieträger, aber er ist und bleibt ein Mensch, für den Selbstmord plötzlich zur Option taugt. Wenn man die Konsequenz ausblenden würde, könnte man die Eltern als lächerlich bezeichnen, das verbietet sich aber, weil man durch diesen Film einmal mehr Zeuge davon wird, wie zerstörbar eine heranwachsende Seele ist.
Ganz anders, aber letztendlich auch um fehlende Liebe geht es in E-LOVE, der sich als absolut charmante, mit skurrilen Figuren gespickte Komödie für ein erwachsenes Publikum empfiehlt, denn: Wer jenseits der 30 kennt es nicht – man ist länger liiert, irgendwie ist der Dampf ein wenig aus der Lok, und plötzlich spricht man von einer kleinen Pause. Die beansprucht Paules Gatte, bis sie rauskriegt: Alex’ Neue heißt Capucine und ist 28. Das haut richtig rein! Paule geht auf die 50 zu, um wen Neues kennenzulernen, bleibt dann oft nur das Internet. Und nun geht ein Dating-Reigen los, den es zu belachen gilt, der aber durch wirklich gescheiterte Existenzen zu beinahe fatalen Begegnungen führt. Das Leichte überwiegt gottlob, was beachtlich in diesem auch philosophische Fragen behandelnden Film ist, denn letztendlich ist dies eine Geschichte unserer Zeit, in der viele an Ungeduld, fehlender Bereitschaft sich zu öffnen und – das Schlimmste vielleicht – an mangelnder Empathie leiden. Und diese genau beobachtete Studie gelingt Anne Villacèque zum austariert tragikomischen Exkurs, was viel mit Gespür, aber auch mit Anne Consigny, der brillierenden Hauptdarstellerin, zu tun hat.
Ein Filmexperiment der besonderen Art sei noch ans Herz gelegt. Und vorab gestanden: Ich war skeptisch. Ist LIFE IN A DAY letztendlich doch das Ergebnis eines von Ridley Scott initiierten YouTube-Projekts, wobei User aufgerufen wurden, den 24. Juli 2010 als einen Tag aus ihrem Leben zu dokumentieren. Letztendlich galt es, aus über 4.500 Stunden Filmmaterial aus über 190 Ländern einen Film zu schneiden, der diesen Namen auch verdient. Und das ist Scott und dem federführenden Regisseur Kevin Macdonald gelungen. Der Chronologie eines Tages folgend, werden kleine „Lebensschnipsel“ verbunden, die anrühren und nachdenklich stimmen, die zum Lachen und zum Weinen taugen. Weil sie echt sind, weil sie vom Aufwachen und Schlafen, vom Essen und Trinken, von Geburt und Tod, von Glück und Gesundheit, von Freude und Trauer erzählen. Witzig ist dabei die erste Rasur eines 15jährigen, berührend die schwere überstandene Krebs-OP einer noch jungen Mutter. Um thematische Einschränkung bemüht, ziehen sich drei Fragen durch den Film: Wen liebst Du am meisten? Was hast Du in der Tasche? Wovor hast Du die meiste Angst? Nur in wenigen Momenten läßt sich der Film instrumentalisieren, wenn er etwa in ziemlich banaler Schwarzweißmalerei Szenen aus Amerika und Afghanistan gegenschneidet, wenn Armut und Reichtum in gleicher Montagetechnik abgehandelt werden. Dann hat LIFE IN A DAY kurz etwas von einem Regierungsauftrag. Insgesamt hat der Film aber durchaus Charme, wenn er auch ein Thema merkwürdigerweise komplett ausklammert, das aber – wenn von Menschen und Liebe die Rede ist – dazugehört: Sex. Da will man keine pornografischen Wackelbilder sehen, aber schwärmen dürfen die Protagonisten doch sicherlich. Erstaunlich ist die indes gute Qualität der einzelnen Aufnahmen, und musikalisch wird das Ganze von keinem Geringeren als dem Tüftler Matthew Herbert zusammengehalten. Dafür sollten sich doch Kinos finden lassen ...
Etwas konservativ, aber insgesamt nett anzusehen war der französische Beitrag LES FEMMES DU 6IÈME ÉTAGE von Philippe Le Guay, der in den 60er Jahren angesiedelt ist und von der Freundschaft eines etwas müden Finanzmaklers zu einer Bande von spanischen Gastarbeiterinnen erzählt. Diese Geschichte über das verspätete Erkennen der wirklich wichtigen Dinge im Leben ist zum einen zwar vereinfacht und altmodisch erzählt, Le Guay hat auch keinerlei Angst vor Flachwasser und Kitschmomenten, aber im Gegensatz zu dem, was einem im Wettbewerb des Festivals häufig geboten wurde, handelt es sich um einen richtigen Film, dessen Macher etwas von Timing, Kameraarbeit, Lichtsetzung und einem guten Cast verstehen. Carmen Maura muß sich hier zwar mit einer sie unterfordernden Nebenrolle begnügen, aber dieser merkwürdige Kauz Fabrice Luchini macht diesen Film ohnehin zu seinem.
Etwas unentschieden, aber durchaus interessant, weil sie von einem merkwürdigen Lebensmodell erzählt, war die Doku THE BALLAD OF GENESIS AND LADY JAYE. Dieser Genesis P-Orridge ist Musiker, aber eher der härteren und elektronischen Art. Einst stand er Bands wie Psychic TV und Throbbing Gristle vor. Auch davon erzählt der Film, aber eben mehr noch von einer Liebe, einem eigenwilligen Bündnis. Dem zwischen Genesis und der um einiges jüngeren Lady Jaye. Die beiden verabreden in ihrem Gefühl füreinander sprichwörtliche Einzigartigkeit, ihre Wesen und ihre äußere Erscheinung werden mit den Jahren zunehmend verschmelzen: Genesis läßt sich Brüste machen, sie tragen das Haar ähnlich, ihre Kleidung korrespondiert, und die gemeinsamen Besuche beim Chirurgen werden häufiger. Das neue Wesen, das aus zweien entsteht, wird Pandrogyn genannt. Da hätte man durchaus mehr (psychologische) Hintergründe erfahren wollen, aber Regisseurin Marie Losier scheint doch eher staunende Sympathisantin als „Forscherin“ zu sein. So bleibt es dem Zuschauer überlassen, ganz genau hinzuhören, zu erspüren, in das traurige und durch die OPs seltsam starre Gesicht von Genesis zu schauen, als seine Partnerin urplötzlich stirbt, um erahnen zu können, was dann aus einem Menschen wird, der nun wirklich unvollständig ist.
Eine Geschichte von einem Menschen auf der Suche nach sich selbst erzählte auch der fabelhafte britische Film SUBMARINE. Da lernen wir den 15jährigen Oliver Tate kennen, der in Look, Phantasie und Kauzigkeit ein würdiger Harold-Nachfolger ist. Allein die Anfangssequenz, wie sich der kreative Junge seinen Tod und vor allem die Trauer um ihn vorstellt, ist brüllkomisch. Richard Ayoades Film lebt von pointierten Dialogen, gut getimeten Lachern, und er wird getragen vom außergewöhnlichen Talent des Craig Roberts und der einmal mehr wandelbaren Sally Hawkins als dessen Mutter, die auch ganz schön am Sender dreht.
Wenn all das hier Erwähnte in die deutschen Kinos kommt, dann muß sich ums Qualitätsprogramm keiner mehr sorgen ...
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.