[ 26.07.2012 ] Die Aufregung war groß und ihr auch anzumerken – Diana Iljine übernahm nach 29 männlich dirigierten Filmfesteditionen und außerdem zu einem Jubiläum das Zepter zum schönsten deutschen Festival. Da darf man sich in der Antrittsrede gern auch einmal zwischen Kollisionen von Milchstraßen und Galaxien und weiß der Deibel was verirren, wenn sie schließlich doch zu einer einfachen, aber umso klareren Ansicht zurückkehrt: „Filme sind wichtig!“ Das war vor 30 Jahren schon so, und hoffen und träumen wir einfach davon, daß dies in 30 Jahren auch noch so sein wird. Und auch, daß dieses wichtige, wertvolle Gut in richtigen Kinos zu Glanze kommt, daß die Handy-Schnipsel-Glotzer, die e-, i- und sonstwie durchalphabetisierten Technikfuzzis Unrecht behalten, daß Film eben nicht überall und bestbillig verfügbar ist. Wie wichtig Film dem Festival wirklich ist, zeigte sich auch im Mittel der Beschränkung, Klasse statt Masse war also das Motto, und dem geneigten Filmfreund konnten tatsächlich Ohren, Augen und Herzen auf- und übergehen bei der feinen Auswahl. Auch wenn – was ein wenig schade ist – die Reihe „Nouveau cinéma français“ nicht mehr existiert, tolle Filme aus dem schönsten aller Filmländer galt es dennoch zu entdecken. Zum Beispiel PARIS MANHATTAN, eine – der Titel verrät es ein wenig – umwerfend charmante Liebeserklärung an den vielleicht größten zeitgenössischen Beziehungsspezialisten: Woody Allen. Diesem ist Alice verfallen, seit sie 15 ist und erstmalig MANHATTAN sah. Und die Ratschläge des lebensklugen Filmemachers kann Alice wirklich brauchen, schnappte ihr ausgerechnet die Schwester den Mann weg, und ist sie nun mit Ende 30 noch immer Single. Außerdem verwirren die Avancen des etwas älteren Alarmanlagenkonstrukteurs Victor die Apothekerin zunehmend. Victor, der noch nie einen Film von Allen sah ... Zauberhaft, wie hier einem Idol gehuldigt wird, toll, wie die Liebe zum Kino zelebriert wird (Alice hat nämlich nicht nur Medikamente in ihrer Apotheke, für die schweren Fälle hält sie eine beachtliche Filmkunst-DVD-Sammlung parat!), und beeindruckend, wie der Regienovizin Sophie Lellouche es gelang, den Staffelstab von Allen an eine neue Generation weiterzureichen und dabei selbst auf Augenhöhe mit dem Meister von den zwei vielleicht doch wichtigsten Dingen des Lebens zu parlieren – Sex und Arbeit. Bleiben wir bei Franzosen und großen Namen: Es schien verschollen, das einstige Enfant terrible des französischen Films, Leo Carax. 13 Jahre nach dem verstörenden POLA X taucht Carax wie aus dem Nichts wieder auf und schüttelt was aus dem Ärmel? Ein Meisterwerk, wahrlich, nicht weniger ist HOLY MOTORS. Klar, verstörend auch, was sonst? Aber in jedem Fall die Großtat eines Genies, denn was anderes bedeutet es denn, wenn man sich einen Film von zwei Stunden Länge gern um wenigstens die Hälfte noch einmal verlängert wünscht? Weil die Sinne toben ob der Ideenvielfalt, der Bildgestaltung, der Fiebrigkeit eines Getriebenen und ob einer in Spielwut und Risikobereitschaft unvergleichbaren Performance der Sonderklasse vom Kinosonderling Denis Lavant. Carax setzt Stars und Sternchen wie Eva Mendes und Kylie Minogue in diesem Reigen nicht aus Eitelkeit ein, in ihrem sirenengleichen und dann wieder geerdeten Auftritt passen beide in diesen Film, der wie nebenher nicht weniger macht, als ein ganz neues Parisbild zu zeichnen. Nicht möglich? Bitte selbst überzeugen, Ende August in den deutschen Kinos!
Diese artgerechte Auswertungsform blieb dem neuen Film von Mathieu Kassovitz bisher verwehrt, die Zeichen stehen leider auch nicht auf Grün, daß es L’ORDRE ET LA MORALE über eine eventuelle DVD-Auswertung hinaus schaffen könnte. Was schade wäre, denn zum einen erzählt Kassovitz mit sich selbst in der Hauptrolle als Hauptmann einer Anti-Terror-Einheit ein weithin unbekanntes und dabei sehr unrühmliches Kapitel französischer Einmischungs- und Aggressionspolitik (Thema ist die blutige und tödliche Zerschlagung eines Aufstandes der Kanak, Ureinwohner Kaledoniens, Ende der 80er Jahre), und zum anderen tut Kassovitz dies in einer ungeschönten Bildsprache, mit einem Sound, der auf die Brust drückt, und in einer konzentriert-stringenten und in jedem Fall spannenden Erzählweise, daß einem Filme wie PLATOON und APOCALYPSE NOW in den Sinn kommen.
Reden wir nun über den deutschen Film, auf den wie immer Verlaß war, denn: Er blieb unberechenbar! Will sagen: zwischen brillant und nervtötend. Vielleicht Letzteres zuerst, da isses weg: DREI ZIMMER, KÜCHE, BAD – der Titel fackelt nicht lange, man weiß flott, es geht um Wohnungssuche. In diesem Fall recht akut, denn Wohngemeinschaften lösen sich hier auf, neue Paare finden sich, alte korrodieren auseinander, es gibt also viel zu tun und zu bequasseln. Und diese Redseligkeit, die Regisseur und Ko-Autor Dietrich Brüggemann in teilweise haarsträubend konstruierte Dialoge packt, geht einem schlicht auf die Eier. Pardon, aber dieses jaulige Börlin-Midde-Gedöns, dieses „Nee, ist super“-Geplärre, dieses „Das letzte halbe Jahr ist irre viel passiert!“–Geschnatter ist so was von nervig, und weil noch jeder zweite Satz krampfhaft auf Witz gebürstet wird, das Fortschreiten der Geschichte von diversen Liebeleien und Freundschaften brav wie an einer Perlenkette aufgereiht ist, kann Brüggemann eben nicht verleugnen, daß diese Generation der Mitt-20er einfach zum Großteil so uninteressant, so leer und derart an sich selbst besoffen ist, daß man denen im Kino nicht begegnen will. Weil sie nichts zu sagen haben. Das weiß Brüggemann natürlich nicht, im Gegenteil, er lanciert seine Schwester und Ko-Autorin Anna auch noch in eine zentrale Rolle, eine Art BB der Moderne, ein Weib, nach dem sich alle Männer verzehren. Nur fragt man sich – warum? Unsympathisch, lärmig, mit groß aufgerissenem Kalbsblick agiert sie als Dina in diesem mit prahlerischen Cameoauftritten gespickten Stück, das selbst tolle Schauspieler wie Jakob Matschenz, Corinna Harfouch und Robert Gwisdek nicht davor bewahren können, eine überlange Seifenoper auf falschem Platz zu sein. Durchatmen und Brust raus – denn es geht auch anders, zum Beispiel in dem kleinen, feinen und in schniekem Schwarzweiß mit lässigem Großstadtjazz untermalten OH BOY von Jan-Ole Gerster. Auch hier gibt es einen jungen Typen, wunderbar ambivalent und anrührend von Tom Schilling gespielt, noch auf der Suche, allerdings ist Niko eben keiner von denen, die auf sich stellende Fragen die Antworten ohnehin schon kennen. Bei Niko läuft im Moment einiges schief, das Studium träumt in der Warteschleife, den Führerschein kann er durch Behördenwillkür beim Idiotentest ebenfalls abhaken, und richtigen Kaffee gibt es in der Stadt auch nicht mehr. Entspannt, mit feinem Witz, erstklassigen Dialogen und mit tollen Typen ist OH BOY wirklich auf leisen Füßen zu einem Porträt einer unfertigen Generation und gleichsam Ode auf und Abrechnung mit einer noch immer zerrissenen Stadt geworden. Und es tut einfach gut, Typen wie Niko kennenzulernen, die nicht alles hinnehmen, die sich noch wundern, wenn man im Restaurant nur englisch bestellen kann, und die sich an diesen hohlen Latte-Moccacino-Typen stören. Und noch was Schickes von zu Hause hinterher: Die junge Lola Randl hat einen faszinierenden Film an die Isar gebracht – DIE LIBELLE UND DAS NASHORN, ein Zwei-Personen-Stück und mit Mario Adorf und Fritzi Haberlandt geradewegs perfekt besetzt. Es ist die Begegnung zwischen der jungen Buchautorin Ada und dem alternden Schauspielstar Nino: eine Nacht im Hotel, lange Gespräche, verrückte Ausbrüche und eine Zärtlichkeit, die über allem schwebt, so sinnlich, wie man sie normalerweise allein aus dem französischem Kino kennt. Denn mit Verlaub: Wer schafft es schon, eine Figur glaubwürdig einen alten Mann unbedingt schon deshalb küssen lassen zu wollen, weil sie den Verfall so schön findet? Randl und Haberlandt und der über allem schwebende Adorf haben das hingekriegt. Und noch viel mehr. Nur über den irgendwie doofen Titel muß man streiten ...
Feine Filme kamen auch von überm Teich und zeigten sich als modernes, unabhängiges Kino in schönster Form- und Themenvielfalt. Kaum zu glauben, daß es sich beispielsweise bei dem klugen und zu Herzen gehenden Film ROBOT & FRANK um das Debüt des noch recht jungen Regisseurs Jake Schreier handelt. Erzählt wird vom Pensionär Frank, der bisher ganz gut alleine zurechtkam – bis seine Demenz fortschreitet. Der vielbeschäftigte Sohn hat die Faxen mit dem Vater dicke und sorgt für Gesellschaft, die – auch wenn der Film in der Zukunft spielt – erst einmal eine recht merkwürdige und von Frank komplett abgelehnte ist: ein Roboter. Ohne ein Übermaß an technischem Schnickschnack wird davon erzählt, wie es vielleicht demnächst zugehen könnte in einer überalterten Gesellschaft, die zudem am Pflegenotstand laboriert. Und gottlob ist ROBOT & FRANK keine herunterziehende Jammergeschichte von sozialen Mißständen und altersbedingter Isolation geworden, nein, vielmehr gelingt es Schreier, mit viel Gefühl, jeder Menge trockenem Witz, leiser Systemkritik und einem furios spielenden Frank Langella über familiären Zusammenhalt, Abenteuerlust im Alter und auch davon zu erzählen, daß nicht jeder Kunstdieb per se böse sein muß.
Der Indie FRIENDS WITH KIDS war da ein völlig anderes Kaliber: Derb, frech, kurzweilig und in hohem Maße unterhaltsam werden wir in eine Gruppe Mittdreißiger geworfen, die gerade dabei sind, ihren Freundschaftsbund, ihre Unabhängigkeit und teilweise ihre Ehen zu verlieren – weil Kinder im Anmarsch sind, weil das Leben an Streß zunimmt, oder weil sich Jennifer und Adam für ein anderes Lebensmodell entschieden haben. Jennifer Westfeldt, die Regisseurin, fackelt nicht lange, man ist sofort mittendrin in dieser temporeichen, schlagfertigen, nicht ohne ernste Momente aufwartenden Erwachsenenkomödie, die sich mit dem Terror durch (meist anderer Leute) Kinder beschäftigt, die moderne Unverbindlichkeit attackiert und in jedem Fall eines mit Bravour tut – bestens zu unterhalten.
In BEASTS OF THE SOUTHERN WILD bekam man eine Geschichte erzählt, wie man sie auf deutschen Leinwänden sicher noch nie entdecken konnte. Benh Zetlin erzählt von den Ärmsten der Armen, die unter unwirtlichen, aber für sie verteidigungswürdigen Bedingungen im Mississippi-Delta leben. Die kleine Hushpuppy zum Beispiel, die mit ihrem zunehmend kranken Vater dort lebt – ein fantasievolles Mädchen, das den Tieren ins Ohr flüstert, sich aufbäumt gegen das Trinken, das Verjagtwerden durch Behörden und seit kurzem auch gegen diese merkwürdigen, vorgeschichtlichen Riesenkeiler, die sich ihrer Heimat nähern. Zetlin ist ein berührender, trotz der Härte ein durchaus poetischer, fast märchenhafter Film gelungen – die Ballade einer imposanten Kämpferin.
Ganz andere Kämpfe hatte Walter Salles bei seiner Adaption ON THE ROAD zu bestehen, galt Jack Kerouacs Beatnikbibel „Unterwegs“ doch stets als unverfilmbar. Salles tat dennoch gut daran, nach der Jahrmarkterei um die Rechte zwischen Coppola, Godard und Van Sant in die Sporen zu steigen und diesen Film zu machen, so wie er ihn machte: mit starken (Landschafts-)Bildern, detailgetreu in Habitus und Dekor, diesem Mut zur Lücke, was die Zitierfreude angeht und mit passenden Gesichtern beim Cast. Diese Gier aufs Leben, diese Getriebenheit einer scheinbar rastlosen Jugend in dieser Szenerie aus verqualmten Bars, schmutzigen Betten und prächtigen Baumwollplantagen kommen dem Geist von Kerouacs „Mußt-Du-gelesen-haben“-Manifest durchaus nahe.
Und noch zwei Kurze zum Schluß: Filme aus der Schweiz sind eine Seltenheit auf deutschen Leinwänden, selbst wenn diese in der Heimat zu den großen Abräumern gehörten. Das ändert sich im Oktober mit DER VERDINGBUB, was nur in Ordnung geht, denn Markus Imboden erzählt eine aufwühlende Geschichte um Demütigung, Mißbrauch und Totschlag kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, und sein Film über den geradezu kriminellen Umgang mit Waisenkindern als Billigsklaven taugt als Sittengemälde über ein nicht nur schweizerisches, sondern gesamteuropäisches Phänomen, das ganz ohne Vilsmaier-Touch nachhaltig zu berühren weiß. Und Katja Riemann zeigt in einer reifen Leistung einmal mehr, daß das blonde Komödienliebchen endgültig ausgedient hat.
Ganz anders, aber eben auch von irgendwie fehlgeleiteter Zuwendung erzählt der britische Film UNCONDITIONAL: Die 17jährige Kristen ist sofort hin und weg, als der betont coole Liam auftaucht. Der allerdings interessiert sich mehr für ihren Zwillingsbruder Owen, die beiden hängen ab, und plötzlich hat Liam nur noch einen Wunsch: Owen soll sich als Mädchen kleiden, dafür kriegt er Liams Liebe. Klingt ein wenig irre, wird es auch, weil UNCONDITIONAL zu Beginn mit der süßen Mär vom „Raus aus der Platte, rein ins Glitzerland“ charmant und durchaus witzig spielt, bis eben auch der Wahnsinn offensichtlich wird, der Liam antreibt. Ein reiches, blödes, krankhaft nach Besitz gierendes großes Kind, das bereit ist, Owen, wenn er sich denn sträubt, zu zerstören. Toll gespielt wird der verführte und schwer verliebte Teen übrigens von Harry McEntire, ein Name, den man sich merken sollte.
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.