W IMIE ...
[ 27.02.2013 ] Daß gemotzt wird, gehört von jeher zum Festival wie eben auch so mancher Fehlgriff in der Filmauswahl. Daß jedoch die Stimmung gleich zu Beginn derart im Eimer war, fühlte sich neu an, und grimmige Gesichter, fluchtartige Bewegungen im Kinosaal, dauerrotzende Nasen und Schimpftiraden in der regionalen Presse kräftigten den Eindruck, daß das Daumenhoch-Jubelmauerwerk unter dem Rotschal-Impressario Dieter Kosslick gehörige Risse bekommen hat. Was auch wüste, leicht konspirativ-pathologische Erkenntnisse unter Kollegen belegen. So meinte einer in der Presseschlange, daß die Berlinale die 9-Uhr-Presseschiene nur deswegen erfunden habe, damit man den Film gleich von Beginn an scheiße findet. Autsch! Hier empfehle ich spontanen Badge-Entzug und flotten Berufswechsel. Oder mal laufen, so richtig, in der frischen Luft, soll ja helfen bei Beklemmungen jedweder Art.
Das versuchen auch Adam und Marc. Adam ist Priester, seine Geschichte erzählt der beeindruckende polnische Film W IMIE ... (IN THE NAME OF ...). Adam joggt mehrmals am Tag, genau so, als könne er seiner Bestimmung, seinem Begehren und – in seiner Situation – auch seinem Fluch davonlaufen. Er wurde schon einmal versetzt, Warschau ist passé, nun kümmert er sich in der Provinz um schwierige Jugendliche. Und als er dem rätselhaften, dunkeläugigen Lukasz begegnet, brechen sich Sehnsucht und Begierde wieder Bahn. Trotz des Dramas schimmert in der Arbeit von Malgoska Szumowska manch’ subtiler Witz, den es auch braucht, will man bei den harten innerlichen und mit immer häufigeren Besäufnissen auch äußerlichen Kämpfen Adams dranbleiben. Gerade die Szenen mit Lukasz sind von einer ganz besonderen, auch erotischen Stimmung gezeichnet – wie Adam nach einer Attacke dem Jungen das Blut vom Körper wäscht, wie sie im Maisfeld mit tierischem Gebrüll herumalbern, wie Lukasz das Schwimmen beigebracht wird. Der Schluß ist ein schöner, er untermauert Szumowskas Sicht, daß man die, die man liebt, schützen muß, daß man um sie kämpfen muß.
So stark gelang das Ende des deutschen Films FREIER FALL nicht, aber ein nachhaltig wirkender Film ist Stephan Lacants Debüt dennoch. Auch hier wird gerannt, beinahe wie ums Leben, um nichts weniger geht es, da für den Polizisten Marc plötzlich alles zur Disposition steht: Karriere, Eigenheim, Familie, Nachwuchs. Seine Freundin ist hochschwanger, er auf einer Fortbildung, das Zimmer teilt er sich mit Kay. Blicke, Aggressionen, Neckereien und urplötzlich der erste Kuß beim Waldlauf. Lacant zeigt mit sensiblen Mitteln eine Überrumpelung, ein Aufbrechen, ein Aufflammen und ein Verzweifeln. Daß die Bilder dazu oft doch nur Fernsehbilder sind – geschenkt. Was das Buch, der Schnitt von Monika Schindler, die toll gefilmten Männerküsse und vor allem die beiden Hauptdarsteller Hanno Koffler und Max Riemelt aus dem Stoff, der explizit auch Homophobie und antischwule Gewalt bei der Polizei anspricht, machen, ist schon besonders.
Wer ein wenig Geduld hatte, wurde mit einem weiteren starken deutschen Film belohnt: GOLD von Thomas Arslan. Daß in der Pressevorführung auch gebuht wurde, spricht eher für den Film, die Kollegen laborieren noch am DJANGO-Fieber. Ein Western ist GOLD auch, aber eben ein stillerer, trotz der weiten Landschaftsbilder ein geradezu beklemmender und einer, der keine Helden kennt. Vielleicht ein Anti-Western, aber das waren ja meist die besten Auswürfe dieses uralten Genres. Erzählt wird von Goldsuchern Ende des 19. Jahrhunderts, ein Trupp deutscher Einwanderer begibt sich in die Hände des Geschäftsmannes Laser, der sie über den schwierigen Weg ins Glück versprechende Dawson bringen soll. Schnell wird klar, daß Laser ein verlogener, geldgeiler Hund ist, Träume und Hoffnungen wanken, Mißgunst und Gier lassen es in der Gruppe bald gehörig knacken. Schnörkellos und nach einem sehr kontemplativen Einstieg durchaus spannend wird auf der semantischen Melodie der „10 kleinen Negerlein“ gesummt, die mit wunderbaren Interpreten wie Nina Hoss besticht, und die letztendlich sich zu einem gar feministischen Pamphlet aufschwingt.
Zurück zum Western, einen 20-Jahre-Schritt sogar: Es war 1993, als George Sluizer mit River Phoenix DARK BLOOD in der Wüste drehte, gut zwei Drittel des Films waren im Kasten, als der Jungstar mit 23 Jahren zu Halloween in einer Drehpause an einer Überdosis Heroin und Kokain starb. Die Versicherung krallte sich die Filmrollen, ein Gezerre um die Rechte ging los. Doch Sluizer blieb dran – auch im Angesicht seiner eigenen schweren Krankheit wollte er diesen Film irgendwie zu Ende bringen. Zum Glück! Denn DARK BLOOD ist ein wunderbares Werk geworden, trotz der fehlenden Szenen, die Sluizer aus dem Off einliest und die Bilder dazu einfrieren läßt, was dem ganzen, ohnehin mystischen Film eine noch magischere Note gibt. Die Geschichte ist schlicht: Ein Ehepaar strandet in der Wüste, sie treffen auf Boy, der Hilfe verspricht. Dann aber nähert sich der Junge Buffy, zum Mißtrauen ihres Ehemanns, und die Verzögerungstaktik Boys sorgt für Aggressionen. Wenn Judy Davis als Buffy sagt: „Du bist ein junger, verstörender Mann!“, dann paßt das ganz gut und ist dennoch nur die halbe Wahrheit. Boy verlor seine junge Frau, die nach Atomtests in der Wüste an Krebs erkrankte, dies hat ihn zu einem müden, asozialen und einsam-traurigen Tier gemacht. Und es ist eben der Ausnahmemime Phoenix, der Boy diese anrührende Wirkung verleiht, sein Spiel macht einmal mehr deutlich, daß mittelmäßige Schauspieler wie Brad Pitt immer nur Brad Bitt auf der Leinwand sein werden: River Phoenix hingegen wird zum wütenden Halbblut, dem das Alter bereits aus seinen jungen Augen schaut.
Kämpferisches Kino kam aus Spanien, in mehreren Filmen warf die nun schon Jahre andauernde Krise lange Schatten auf die Geschichten und unter die Augen ihrer Protagonisten. Dabei greift Isabel Coixet in AYER NO TERMINA NUNCA (GESTERN ENDET NIE) auf ein noch schlimmeres Szenario in 2017 voraus: Über sieben Millionen Arbeitslose, mehr als drei Millionen leerstehende Häuser, Gewalt, auch terroristische, greift um sich, die Menschen wachen jeden Tag ärmer auf, als sie zu Bett gingen, sie suchen Essensreste in Futtertonnen, und in einer geisterhaften, nie zu Ende gebauten Lagerhalle treffen sich zwei Menschen. Wie Fremde umschleichen sie sich, sie ist mittellos, lebt in ihrem Auto, er hat Karriere in Deutschland gemacht. Doch der wirtschaftliche Dissens weicht einer privaten Gemeinsamkeit: Sie haben sich nach Jahren getroffen, weil ein Vergnügungspark gebaut werden soll, auf dem Friedhof, auf dem ihr kleiner Junge begraben liegt. Er starb an Meningitis mit sieben Jahren – auch, weil ewig kein Arzt kam. Sperrig, essayistisch und im Verlauf ein doch absolut packendes Zwei-Personen-Stück in morbider, faszinierender Graubetonkulisse. Die beiden schenken sich nichts: Schuldzuweisungen, verletzende Offenbarungen, alte Wunden reißen auf, neue kommen hinzu. Wie sich hier die Trauer um das tote Kind und um ein sterbendes Land vermischen, ist eigenwillig, theaterartig, durch das intensive Spiel von Javier Cámara und Candela Peña aufwühlend. Er hatte ihr einst versprochen: Yo lucharé por ti. Das war nicht zu halten, er konnte nicht mehr kämpfen.
Im semidokumentarischen Beitrag LA PLAGA werden fünf Menschen beobachtet, die sich durch die Krise kämpfen. Mit mehreren Jobs gleichzeitig, und als sei die anhaltende Pein nicht groß genug, quälen sie auch noch akute Atemnot, fehlende Papiere, Parasiten auf den Feldern und für die alternde Maribel das Ausbleiben der Freier. Ja, Mensch, möchte man den arroganten Merkelschen Sparbefehlsgebern zurufen: Sie arbeiten doch! In dieser Hitze in den Randgebieten Barcelonas. Sie trennen sich von den Familien, um irgendwo irgendwie ein paar Euro zu verdienen, und sie glauben fest daran: „Bessere Zeiten werden kommen!“ Der 1:1-Blick in die müden Gesichter, das ungeschönte Aufzeigen der prekären Lage, die immer neuen Fallstricke in den einzelnen Schicksalen lassen daran zweifeln. Zum Glück kommt dann aber doch der wochenlang ersehnte, geradewegs erlösende Regen ...
Zurück nach Berlin kam Sebastian Lifshitz, und er hatte eine ganz zauberhafte Dokumentation über einen interessanten Menschen im Gepäck. BAMBI erzählt die Geschichte einer Bestimmung. Dem kleinen Jean-Pierre war von Kind an klar, daß es sich um ein Mißverständnis handeln muß. 1935 in Algerien geboren, weinte er als Kind, wenn er gezwungen wurde, sich Jean-Pierre zu nennen, er fühlte es einfach besser: Er war schon immer ein Mädchen. BAMBI erzählt nun mit beeindruckendem Archiv-Material die Geschichte einer Verwandlung, von Bambis Flucht in die Travestierevuen von Paris, ihrer Karriere als Showgirl, dann vom abrupten Wechsel, als sie schließlich an der Sorbonne studiert – um später als Lehrerin zu arbeiten. In der Pariser Banlieue! Das ist Abenteuer pur, das lädt zum Schmunzeln ein, ringt einem aber immer großen Respekt ab – vor einem Menschen, der ganz jung in Algier die richtige Entscheidung traf: zu leben.
Leben lernen wollen auch die jungen Protagonisten des lateinamerikanischen Beitrages LA PISCINA. Die vier Teenager trainieren in einem in die Jahre gekommenen Schwimmbad, kleine Rivalitäten brechen aus, erste amouröse Empfindungen treffen auf aggressive Sticheleien. Vielleicht auch, weil das Schicksal sie verbindet: die Einbeinige, den Jungen mit Downsyndrom, den Schweiger und den Gehbehinderten. Sehr ruhig, mit langen Einstellungen wird von einem Sommertag im Leben von vier Lauernden erzählt. Nicht mehr, keinesfalls weniger.
Richtig erotisch wurde es mit dem französischen Beitrag MES SÉANCES DE LUTTE von Jacques Doillon. Eine junge Frau kehrt in die Provinz zurück, ihr Vater, der sie nie beachtete, ist tot, sie trifft auf einen bärtigen, etwas älteren Mann. Erst umkreisen sie sich, dann führen sie durchaus merkwürdige Unterhaltungen, schließlich gibt es erste Kampeleien, dann wird richtig gerungen – auf dem Boden, auf dem Küchentisch, im Schlamm. Ein Paar sucht die Liebe? Es bleibt erratisch, aber durch das Spiel und eben auch den vollen Körpereinsatz Sara Forestiers (mit Kopfschlagen gegen echte Türen und mit wahrhaften Blessuren ...) kann man sich dem Treiben, das immer so knapp verläuft, daß alles auch schiefgehen könnte, nicht entziehen.
Der aufwühlendste Film der Berlinale indes war ein belgischer: THE BROKEN CIRCLE ist die wilde, aufwühlende und in vielen Momenten wirklich zu Tränen rührende Lebensodyssee der Tätowiererin Elise und des Bluegrass-Sängers Didier. Der Film, eine Spiegelung all jener von fiesen Göttern zugelassenen Unberechenbarkeiten, die einen das Leben an sich in Frage stellen lassen, wartet mit manchem ONCE-Moment auf und erinnert dazu an den atemnehmenden BREAKING THE WAVES von Lars von Trier – kraftvoll, mitreißend, zum Rotz-und-Wasser-Heulen!
Ungetrübte Freude hingegen gab es bei der Leipziger Kinomacherin Miriam Pfeiffer. Sie erhielt den diesjährigen Manfred-Salzgeber-Preis. Mit diesem erinnert der Filmverleih Edition Salzgeber an ihren Gründer, den 1994 verstorbenen Filmverrückten Manfred Salzgeber. Geehrt werden Persönlichkeiten, die sich in ihrer Arbeit dafür einsetzen, daß herausragende, queere und ‚schwierige’ Filme einem Publikum nähergebracht werden. Der richtigen Wahl der Preisträgerin ist nichts hinzuzufügen, außer: Herzlichen Glückwunsch!
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.