STEREO

Von versagenden Müttern, liebenden Männern und sympathischen Selbstmördern in Verzug

Ein Rückblick auf die 64. Berlinale

[ 28.02.2014 ] Wir sind fremdgegangen und fühlten uns gut dabei. In der Halbzeit des sich müde schleppenden Festivals zogen wir gemeinsam mit 12000 anderen Filmmusikliebhabern eine Arena im Friedrichshain den Kinos am Potsdamer Platz vor. Ennio Morricone hatte geladen, und es muß wohl bei den Klängen zu DER CLAN DER SIZILIANER gewesen sein, spätestens jedoch bei „Deborah’s Theme“ aus ES WAR EINMAL IN AMERIKA oder den knieerweichenden Streichern des „Love Theme“ aus CINEMA PARADISO, als sich Ernüchterung Raum verschaffte: Ja, es gab schon bessere Zeiten fürs Kino. Was ist passiert? Sind wir über die Jahre, den Wohlstand, die Summe aller Möglichkeiten derart satt geworden, müde, zahm, gehörlos und blind, daß immer weniger Geschichten von Relevanz erzählt werden, oder daß wir gar das Bangen, Hoffen, das Sehnen, ach was, das Träumen verlernt haben, all das, was (Film-)Kunst – im Schaffen und in der Rezeption – erst tief macht?

Keine Frage, es gab auch im 2014er Jahrgang gute Filme, sie auszumachen kam aber einer Herausforderung gleich: gerade mal ein paar Handvoll starke Filme neben den vielen, die im ewig Repetetivem wühlen, an der Oberfläche schwimmen, erzählerisch eher mit Häppchen als Ganzem jonglieren. Wahrlich sorgen müßte man sich, wenn der Wettbewerb als Bestandsaufnahme, als Visitenkarte des derzeitigen Weltkinos herhalten sollte, denn in der Königssektion sah es in diesem Jahrgang schon am dürftigsten aus.

Gut, nun soll die Verdrängung greifen und die wenigen sehenswerten, tiefer gehenden und bisweilen prächtig unterhaltenden Entdeckungen in den Fokus gestellt werden – unabhängig von Sektionshörigkeit und Promigetrommel.

Stark waren zwei deutsche Filme: JACK und STEREO. In beiden wird vom Versagen erzählt. Jacks Mutter ist eine dieser modernen Erziehungsberechtigten, die vor anderen permanent über ihre Kinder quatschen, deren Kunststücke beklatschen und sie derart bestaunen, als wäre der Nachwuchs das achte Weltwunder. Wenn es aber um tatsächliche Verantwortung geht – genau da patzen sie. Und weil Sanna immer wieder neue Männer anschleppt, die nicht gekommen sind, um zu bleiben, sie sich nachts lieber auf Parties herumdrückt, während der 10jährige Jack sich um den jüngeren Bruder Manuel

kümmern muß, bleibt die Katastrophe nicht aus: Jack kommt ins Heim. Als er nach mehreren Wochen über die Ferien endlich wieder zur Mutter darf, ist diese unauffindbar. Für den Jungen beginnt eine tagelange Odyssee mit Manuel im Schlepp – durch Berliner Nächte, Clubs, Garagen und auf Parkbänken.

JACK RENNT hätte der Film auch in Anspielung an eine andere Berliner Geschichte heißen können. Rastlos, verschwitzt, überfordert und trotz allem von Hoffnung geprägt, gibt der Junge alles, um seine Mutter zu finden, um sich und dem Bruder ein Zuhause zu verschaffen. Eine Sisyphosarbeit, wie Edward Bergers Werk konkludiert. Ein Film, der als Manifest der umgekehrten Verhältnisse taugt und einen großartigen, an den ganz jungen Paul Dano erinnernden Schauspieler vorstellt: Ivo Pietzcker.

STEREO ist ein ganz anderes Kaliber, Genrekino in Reinnatur. Und man ist sofort drin. Fiebrige Kamera, pressierender Ton, enigmatische Musik und eine Hauptfigur, die zum einen sympathisch scheint, aber durchaus Fragen zuläßt: Erik – Schrauber, Stiefpapa und Halunke, so stehts auf dem Unterarm-Tattoo. Plötzlich kehrt der Kopfschmerz zurück, Erik wird von Henry besucht, immer wieder, bis der Typ nicht mehr von seiner Seite und aus seinem Ohr verschwindet. Haken daran: Niemand außer Erik kann diesen Stalker sehen. STEREO knallt richtig, hält die Spannung, überzeugt in seinem Stilwillen Fincherscher Couleur, und das, ohne epigonenhaft zu sein. In Maximillian Erlenweins zweitem Spielfilm wird zugelangt, Zugucken tut auch mal weh, der Humor kommt nicht zu kurz, und letztendlich ist dieser Psycho-Gewalt-Trip unterhaltsamer und eigenständiger, als man es beispielsweise von Tarantinos Zitierwüterei kennt.

Tolle Unterhaltung wurde mit der Nick-Hornby-Verfilmung A LONG WAY DOWN geboten. Pierce Brosnan, der immer besser wird, und bei dessen Spiel man wirklich kaum noch an Geheimagenten denkt, gibt den Fernsehmoderator Martin Sharp, der über eine Sexaffäre stolperte und sich schließlich zu Silvester auf einem Londoner Hochhausdach einfindet, um dem ganzen Scheiß ein Ende zu bereiten. Da all dies zu kurz für einen abendfüllenden Film wäre, das Leben seinen dürren Reiz noch immer aus dem Unerwartbaren zieht, erklingt kurz vor dem geplanten Sprung eine Stimme: „Brauchen Sie noch lange?“ Letztlich sind es vier Lebensmüde, welche die Selbstbestimmung zusammentreibt, die auf eine gemeinsame Reise in den Süden gehen, sich kennenlernen, beschnuppern, verlieben und neu justieren. Bis zum Valentinstag – denn nur so lange hat man gemeinsam den Freitod aufgeschoben! Spielfreudige Darsteller, geschliffene Dialoge, skurrile Typen und das Freilegen herrlicher Macken sorgen für hintersinniges Wohlfühlkino, das diesen Namen noch verdient. Davon können sich die Zuschauer in den deutschen Kinos bereits im April überzeugen.

Einen Tick länger warten muß man auf CALVARY, der im Herbst auf die Leinwände folgt. Geduld, die sich lohnt, denn der Film ist von keinem Geringeren als John Michael McDonagh, der einst den brillanten THE GUARD drehte, und der nun wieder mit keinem Geringeren als Brendan Gleeson filmte. Der spielt einen Pfarrer, so wie man es sich von Gleeson wünscht: unkonventionell, trinkfreudig und bärenhaft. Die Tage von James Lavelle scheinen gezählt, als ihm in der Beichte unmißverständlich sein eigener Tod angekündigt wird. Er soll – wenn auch schuldlos – sterben, weil der Beichtende einst durch einen Pfarrer schwersten Mißbrauch erlitt. Sieben Tage hat Lavell noch. Trotz der Schwere des Subplots besticht der Film durch ungeheuren Wortwitz, man labt sich an der Güte der von Gleeson bestechend gespielten Hauptfigur, die durchaus ihre Brüche hat, und es wäre nicht McDonagh, ließe sich der Regisseur im Finale auf faule Kompromisse ein. So sieht kraftvolles, tragikomisches und kluges Kino heute aus!

Es gab eine weitere neuerliche Kollaboration von zweien, die sich gut verstehen: Nach EIN MANN VON WELT, diesem schmutzigen, fiesen Paradestück über verkommene Typen, brachten Hans-Petter Molland und sein Hauptdarsteller Stellan Skarsgard das beinharte, urkomische und durchaus an FARGO erinnernde Stück IN ORDER OF DISAPPEARANCE mit an die Spree. Wobei der englische Titel wörtlich zu verstehen ist, denn der Bodycount ist gehörig, als Nils Rache übt, nachdem Drogenhändler seinen Jungen töteten. Skarsgard spielt diesen Vater auf Vergeltungskurs in einem gut zur Landschaft passenden Stoizismus, es gibt an Spielbergs DUELL erinnernde Attacken mit einer gigantischen Schneefräse und ein wortkarges, dafür um so ausdrucksstärkeres Wiedersehen mit Bruno Ganz. Und die schicke Jungsclique vom KON-TIKI-Floß ist auch noch drin.

Ein Filmexperiment der besonderen Art geriet zum Besten, was der Wettbewerb zu bieten hatte: Richard Linklaters BOYHOOD ist ein über zwölf Jahre mit den gleichen, älter werdenden Darstellern gedrehtes Familienporträt und zugleich ein humorvoller, kritischer und authentischer Panoramablick auf ein Amerika zwischen Bush-Müdigkeit und Obama-Taumel. Im Zentrum steht der introvertierte Junge Mason, der mit den wechselnden Männern der Mutter, einer dominanten Schwester und dem zu Beginn wenig erwachsenen, entfernt lebenden Vater klarkommen muß. Linklater sind die Episoden in berückender Weise zu einem schlüssigen, humorvollen, anrührenden, mit tollen Musikstücken versehenen und trotz knapp drei Stunden Lauflänge kurzweiligen Film gelungen, eine große Ballade vom Erwachsenwerden, ersten Verlusten, vom Abschiednehmen und familiären Abrieb und Zusammenhalt. Letztendlich fragt der Film auf subtile Weise nach nichts Geringerem als: Wie geht Glück eigentlich?

Im Subtext thematisierte dies auch YVES SAINT LAURENT, der bilderstarke, formidabel besetzte Film über den legendären Modeschöpfer. Erzählt wird aus der Perspektive Pierre Bergés,

lebenslanger Partner an der Seite Laurents – Liebhaber, Förderer, Finanzier und Buchhalter in einem. Bei so viel Nähe könnte man Beschönigung mutmaßen – doch Bergé und seinem 2008 verstorbenen Freund wird nichts geschenkt. Regisseur Jalil Lespert betreibt keine Denkmalpflege, vielmehr fokussiert der Film auf Kraft und Liebe des Duos, auf die kreative Genialität, und er zeigt keine Furcht vor den zwischenmenschlichen Defiziten des Designers, dessen Süchten und Ausschweifungen und skizziert dabei eine Figur voller Zerrissenheit: Saint Laurent ist schüchtern, furchtsam und will doch alles. Eine mitreißende Zeitreise mit tollen Schauwerten und der Erkenntnis, daß Mode einst lebendiger, handgemachter und mobiler war, in einer Zeit, als noch nicht global agierende Luxuskonzerne wie nebenher Edelmarken sammelten.

Über die lebenslange Liebe zweier Männer erzählt auch LOVE IS STRANGE von Ira Sachs. Alfred Molina und John Lithgow spielen George und Ben, ein Paar, das 40 Jahre schon zusammen ist. Und ausgerechnet durch den an sich schönen Entschluß, dies mit dem Bund der Ehe zu besiegeln, steuern sie auf den Abgrund zu. Den Anfang macht der aus der Hochzeit resultierende Jobverlust Georges, der als Musiklehrer an einer katholischen Schule tätig war. Mit Empathie, großem Gefühl und durchaus auch mit Witz wird vom Verlust der Unabhängigkeit erzählt, von später Eifersucht und einer Liebe über den Tod hinaus und davon, was man guten Freunden zumuten kann.

Das Queer Cinema ist traditionell stark vertreten auf der Berlinale, auch in diesem Jahr, wobei generell weniger Beiträge als in den Vorjahren überzeugten. Gelungen war in jedem Fall die deutsch-ungarische Koproduktion STURMLAND, die von Angst, Wut, Dummheit und Liebe erzählt. Als der in Deutschland gescheiterte Nachwuchsfußballer Szabi zurück in die ungarische Heimat kommt, um sich dort des Hauses und der Bienenzucht vom Großvater anzunehmen, trifft er auf den Steinmetz Aron. Die beiden

kommen sich körperlich näher. Eines Tages vertraut sich Aron seiner Mutter an, ohne an die Konsequenzen einer feindlichen, katholisch-reaktionären Dorfsippe zu denken. Es kommt zu Gewalt. Der Film gibt Einblick in die Rückständigkeit mitten in Europa, reflektiert damit menschenverachtende Tendenzen in der Realpolitik Ungarns. Kurz keimt Hoffnung auf, als Bernard (vortrefflich von Sebastian Urzendowsky gespielt) aus Deutschland nachreist, um Szabi zu sehen, um das zu vertiefen, was sich bereits beim gemeinsamen Duschen nach dem Fußball andeutete. Daß es kein gutes Ende geben kann, liegt an der Ehrlichkeit des Erzählers und verrät sich schon darin, daß Szabi zu oft geschwiegen und dennoch mit Charakter entschieden hat.

Eine richtig anrührende Geschichte über das langsame Annähern zweier Jungs geriet zum vielleicht schönsten Film der Berlinale: HOJE EU QUERO VOLTAR SOZINHO (THE WAY HE LOOKS). Langfilmdebütant Daniel Ribeiro erzählt vom Teenager Leonardo und dessen bester Freundin Giovana. Die Freundschaft wird auf die Probe gestellt, als Gabriel neu in die Klasse kommt. Denn plötzlich ist es der attraktive Lockenkopf, mit dem Leo quatscht, bei dem er sich auf dem Heimweg unterhakt, mit ihm für die Schule lernt und sogar ins Kino geht.

Ribeiro erzählt nahe dran und ohne zu oft benutzte Klischeeschablonen von der inneren Zerrissenheit eines Heranwachsenden, der sich gegen die Fremdbestimmung seiner Eltern wehrt, der für sich Freiräume beansprucht und dem die Freundschaft alles bedeutet und der sich schließlich verliebt. Nur Gabriel braucht noch länger, um sich zu dem blinden Jungen mit dem schönen Lächeln zu bekennen.

Herzerwärmend und zugleich Hoffnung schürend taugte dieser Festivalabschluß mindestens dazu, den Gegenbeweis anzutreten, daß wir vielleicht doch nicht satt sind, große Kinogeschichten vom Sehnen und Bangen, ach was, vom Träumen, erzählt zu bekommen.

[ Michael Eckhardt/Richard Knauer ]