LIFE
[ 27.02.2015 ] Doch, doch, ein gerüttelt Maß an Leidensfähigkeit gehört als Filmjournalist schon immer dazu, wenn man sich ins Getümmel der Berlinale stürzt. In diesem Jahr jedoch nahm die Leidensfähigkeit beinahe masochistische Züge an. Dieses ewige Warten beispielsweise. Stundenlang vor Kinosälen, weil die Akkreditiertenzahl nicht immer kongruent zur Saalkapazität lief. Da tickte schon häufig blöd feixend die Lebensuhr. Oder schlimmer noch die olfaktorischen Strapazen, denen man sich täglich ausgesetzt sah, nur weil gar nicht wenige Kollegen der Morgendusche in ehrfurchtsamer Demut aus dem Weg gingen und sich selbst einem Mindestmaß an Mundhygiene verweigerten. Nun könnte man meinen, all dies sollte zu überstehen sein, allein, weil es die Filme des Jubiläumsfestivals ja richten würden. Und hier scharrt gerade beim Jahrgang 2015 der olle Pferdefuß. Kurzum: Ein derart schwachbrüstiges Programm gab es ewig nicht. Das begann mit einem schon fast als lausig zu bezeichnenden Wettbewerb, das setzte sich in den per se eigentlich qualitativ hochwertigeren, da meist abenteuerlicher kuratierten, Nebensektionen wie Panorama oder Forum fort.
Es waren die ganz großen Namen, die es dieses Mal gehörig versemmelten: Werner Herzog zum Beispiel packte mit Nicole Kidman und James Franco zwar passabel aussehende Schauspieler in eine Wüstenkulisse, ließ sie dann aber ziemlich allein durch den dünnen Handlungssud kraulen. Die Kidman schreitet Majestäten gleich über den Sand, James Franco grinst sich durch die Bilder, bis sich seine Figur nach einem knappen Filmdrittel das Leben nimmt. Beileibe nicht die schlechteste Entscheidung, wobei letztendlich die an vielen Szenen pappende unfreiwillige Komik in QUEEN OF THE DESERT den Film wenn schon nicht rettet, aber den Zuschauer wenigstens vor dem kompletten Einnicken bewahrte.
Zum Einschlafen oder eben Wegrennen lud auch Terrence Malicks KNIGHT OF CUPS ein. Dabei wäre es schon frech, bei der Schnarchnummer von einem richtigen Film zu sprechen, mehr als eine stargespickte Bilderrevue, die schöne, reiche Menschen in all ihrer Langeweile aufblättert, war mit diesem Zwei-Stunden-Manierismus nicht drin.
Und schließlich löste auch Wim Wenders’ EVERYTHING WILL BE FINE sein Titelversprechen nicht ein. Er erzählte zäh, langatmig, kraftlos und müde von Trauer, Schuld und Beziehungstraumata und schritt noch nicht einmal ein, wenn ein auf dem Festival omnipräsenter und hier sichtlich überforderter James Franco sich dieses Mal zwar sein Grinsen sparte, dafür zwei Stunden allein mit Stirnfalte „agierte.“ Es fehlte also mal wieder am richtigen Maß oder eben am Maßlosen.
Und welch’ Glück, daß Sebastian Schipper sich an die Maßlosigkeit wagte, an Ungenormtes, an Unausgelatschtes, und so wurde sein eigentlich zu knausrig prämierter Film VICTORIA zur Sternstunde des Festivals. Schipper pfeift auf Gängiges, er unterscheidet sich mit seiner Odyssee durchs nächtlich-frühmorgendliche Berlin in Form, Dramaturgie, Charakteren und ganz generell in seiner Cleverness von allem, was das deutsche Kino in den letzten Jahren zu bieten hatte. Nach einer Nacht im Club heftet sich die junge Spanierin Victoria an die Fersen von Sonne und seiner Gang. Vielleicht ist es auch andersrum. Sie albern, sie trinken, sie liegen auf dem Dach, sie flirten, sie flüstern und schreien. Als sie sich schon verabschiedet haben, kommt Sonne zurück, ob Victoria nicht helfen könne. Nur das Auto soll sie fahren.
Schipper erzählt dann aber von einem Bankraub, von Chaos und Koma, von Koks und Rotz, und letztendlich wird aus einer auf den zu raschen Blick „normalen“ Liebes- und Gangstergeschichte ein kraftvolles, Sehgewohnheiten und -erwartungen über Bord werfendes, überlebensgroßes Epos voller Wucht und Wahnsinn. Wobei einmal mehr das Spiel von Frederick Lau als Sonne sprichwörtlich aus den Latschen haut.
Bleiben wir noch kurz bei den Deutschen. Während Peter Kern, nun gut, der ist Österreicher, mit DER LETZTE SOMMER DER REICHEN einmal mehr über lauwarmes, möchtegernprovokatives Thesenkinoterrain trampelte, überraschte Rosa von Praunheim mit HÄRTE tatsächlich – eben, weil er dieses Mal fast gänzlich ohne Trashappeal erzählte, was sich auch so gehört, wenn man in das Lebenstrauma eines Andreas Marquardt taucht. Von der Mutter schon als Knabe sexuell mißbraucht, der Satz „Dein Schwanz gehört mir, Freundchen“ hallt als Lebensecho markerschütternd nach, schließlich die Flucht in den Kampfsport, bald Champion in Europa und Asien, und dann der Weg ins Rotlichtmilieu, wobei Marquardt als Zuhälter ein ganz harter Hund ist. Und schließlich eine beachtliche Knastkarriere. Von Praunheim erzählt von diesem fast unglaublichen Leben in einem Mix aus Spielfilm- und Interviewszenen. Für das in Schwarzweiß Inszenierte wählte er teilweise projizierte Kulissen, was etwas Theaterhaftes, aber durch die überlebensgroße Story durchaus Adäquates hat.
Und schließlich stach noch Sonja Heiss’ HEDI SCHNEIDER STECKT FEST aus der müden Masse heraus. Heiss erzählt von einer jungen Frau, die in vielerlei Form feststeckt – erst ganz wörtlich im Fahrstuhl, schließlich in einer Panikattacke, die sich zur satten Depression mausert, und anschließend im Medikamentenabusus. Heiss gelang das Kunststück, von Existenzängsten, von ganz aktuellen Überforderungen profund, glaubwürdig und immer wieder auch komisch zu erzählen. Ein im besten Sinne eigenwilliger Film!
Menschen auf dem Prüfstand bot auch der Engländer Andrew Haigh, der nach der klapprigen Nabelschau WEEKEND nun mit 45 YEARS einen ganz beachtlichen, sehr intensiven Film vorlegte. Er erzählt die Geschichte von Kate und Geoff, seit Ewigkeiten verheiratet, die Feierlichkeiten zum 45. Hochzeitstag stehen an. Dann erhält Geoff einen Brief, der Vergangenes zurückbringt, der verkrustete Wunden aufbrechen läßt. Haigh erzählt ruhig von Routine und deren Störung, er schaut mit warmem Blick in die vom (Zusammen-)Leben geprägten Gesichter seiner Figuren, die, entgegen einer von der Allgemeinheit beanspruchten Meinung, ein kinderloses und dennoch glückliches Leben führen. Eines, das nach so viel Zeit miteinander Spuren hinterläßt, klar, in dem aber noch immer Eifersucht, Verlustängste, Entfremdung und immer wieder die große Liebe zu spüren sind. Tom Courtenay ist leider viel zu selten im Kino zu sehen, und einmal mehr ist es schlicht umwerfend, wie es der großen Charlotte Rampling gelingt, von einem Moment voller Wärme zu einer Steineskälte oder mindestens in eine extreme Verletztheit zu schalten.
Einen beeindruckenden Ausschnitt eines viel zu kurzen Lebens bot LIFE von Anton Corbijn. Er fokussiert die Begegnung des Fotografen Dennis Stock mit einem jungen Mann, aus dem kurz darauf die männliche Ikone des Kinos schlechthin werden soll: James Dean. Stock ist hingerissen von der physischen Präsenz, dem Talent des jungen Schauspielers, mit einer Porträtserie im Magazin „Life“ will er den Durchbruch schaffen. Dean selbst ist verschüchtert, sturköpfig und unsicher, auch wenn ihm nicht gerade mißfällt, wie Stock oder der Chef von Warner Bros. ihm an den Hacken kleben. LIFE ist die mit gutem Jazz und Rock’n’Roll unterlegte Geschichte einer kantigen Freundschaft, über die Geburtsstunde eines Stars, und die beiden unterschiedlichen Männer werden geradezu perfekt von den Jungstars Robert Pattinson und Dane DeHaan gegeben. Gerade ersterer darf als Fotograf Dennis Stock zeigen, was er nach den TWILIGHT-Plattitüden wirklich drauf hat.
Und noch ein paar Betrachtungen zum Queer Cinema, das traditionell einen festen Platz im Programm der Berlinale hat. Auch hier bedurfte es in 2015 des sehr genauen Blicks, weil sich viel Halbgares in die verschiedenen Reihen mogelte. Wären die Jungs im brasilianischen BEIRA-MAR, der sehr betulich erzählten Geschichte einer späten Annäherung zweier seit Kindheitstagen befreundeter Teenager, nicht so hübsch, und wäre der Einstieg in den thailändischen Film THE BLUE HOUR, der von Sex und Liebe zwischen Tam und Phum erzählt, bevor er in einen wüsten Halbhorrorplot abdriftet, nicht derart knisternd geraten, man hätte sich aus beiden Filmen doch sehr frühzeitig verabschiedet.
Vollends gelungen waren hingegen zwei Beiträge, die ganz unterschiedlich zwar, aber gleichsam interessant von den Problemen junger LGBTs in den von einer reaktionären, feindlichen Religiosität geprägten USA erzählen: I AM MICHAEL und MISFITS. Ersterer porträtiert den Schwulenaktivisten Michael Glatze (mit einem dieses Mal spielerisch differenziert aufwartenden James Franco), der nach einem Panikanfall sein Leben umkrempelt, ganz wörtlich: Aus dem leicht blasphemisch veranlagten Schwulen wird ein gottesfürchtiger, reichlich aggressiver Hetero, der in seinem Blog, seiner Zeitung und später in seiner beratenden Arbeit auch noch missionarisch jungen Schwulen eine genormte Sexualität aufzuschwatzen versucht. Hätte sich diese Wandlung nicht tatsächlich so zugetragen, man hielte sie für eine der reichlich kranken Heilungsgeschichten fundamental-homophober „Christen.“ Auch wenn Justin Kelly etwas parteiischer hätte erzählen dürfen, deutlich wird durch das Thema in jedem Fall: Gäbe es in dem verlogen-gottesfürchtigen Amerika jenen depperten Ansatz von Gehirnwäsche, daß am Queersein irgendetwas falsch sein könnte, gar nicht, wären solche Filme längst obsolet. Die Wirklichkeit erzählt leider von etwas anderem.
In MISFITS schließlich, einem Dokumentarfilm des Dänen Jannik Splidsboel, wird von schwulen, lesbischen, bi- und transsexuellen Jugendlichen erzählt, die damit klarkommen müssen, in Tulsa zu leben, einem Ort, der nicht ohne Stolz auf 2.000 Kirchen für gerade mal 400.000 Einwohner kommt. Da will das einzige schwul-lesbische Jugendzentrum schwer verteidigt sein. Wir lernen unter anderen den 16jährigen D kennen, der schon sechs Jahre Therapie hinter sich hat und sich mit Liegestützen eine breitere Brust antrainiert, die 17jährige charismatische Larissa mit ihrer Freundin, den 19jährigen Ben, dessen Hintergrund ungemein anrührt, wenn sein etwas älterer Bruder erzählt, wie er Ben nach seinem Coming Out richtig haßte, wie sie dann aber wieder zusammenrückten. Das treibt nicht nur den zwei Jungs Tränen in die Augen. Die Jugendlichen, mitten in der extrem homophoben Hölle des sogenannten Bible Belt, erzählen von ihren emotionalen und physischen Ängsten, von der immanenten Gefahr des Suizids, der schon nicht wenige junge LGBTs in der Gegend erlagen.
An sich sind die Porträtierten neben ihrer Sexualität stinknormale Menschen, fast schon ein wenig zu konservativ in ihren Träumen von Sicherheit und dem Prinzen auf dem weißen Gaul, aber wenn Splidsboel Menschen auf der Straße zeigt, die in 2014 noch immer „Gays Go To Hell“ schreien, dann weiß man, daß sich zum einen seit den furchtbaren Schicksalen Brandon Teenas und Matthew Shepards nichts verändert hat, und daß es eben deswegen diese queere Normalität mit aller Kraft zu verteidigen gilt.
[ Michael Eckhardt/Richard Knauer ]