GOD’S OWN COUNTRY
[ 02.03.2017 ] 2018 wird voraussichtlich das letzte Jahr der Berlinale unter der Ägide Dieter Kosslicks sein, und das ist eine gute Nachricht. Kosslicks Batterien scheinen leer, das Programm der letzten Jahre ist ein zunehmend müdes, kaum kreatives, Kosslick geht es wie der bundesdeutschen Politik: Viel zu lang im Amt, die Ideen schwinden. Das Einzige, was den seit 2001 tätigen Festivaldirektor noch antreibt, sind Größe und Wachstum. Mehr Besucher, mehr Filme, mehr Sonderreihen, mehr Events, Küchenkino, Seriengeflimmer, Kiezkino, Talkrunden, Specials etc ...
Den Überblick haben selbst geneigte Filmfreunde längst verloren, das Zauberwort für den Nachfolger kann daher nur sein: Downsizing! Den Fokus auf weniger, dann stärkere Filme richten, nicht dem Zwang verfallen, Programmreihen füllen zu müssen, und vor allem auch ein wenig von der Verkrampftheit ablegen, unbedingt ein politisches Festival sein zu wollen und schon daher jeden Film einzuladen, der irgendwie politisch konnotiert ist, darüber hinaus aber wenig taugt. Eigentlich geht es – etwas egoistisch betrachtet – auch um pure Lebenszeit. Die Autoren dieser Zeilen empfanden das zurückliegende Festival einfach zu häufig als qualvolles Verschleudern von Zeit, weil tatsächlich zu viele Filme in den Kurzbeschreibungen vielversprechend klangen, auf der Leinwand dann aber zu häufig in der Banalität landeten.
Natürlich gab es einige gute Filme zu entdecken, wenn man sich denn querbeet emsig mühte. Den empfehlenswerteren Beiträgen soll daher hier Platz eingeräumt werden, den Ärgernissen nicht. Fangen wir mit dem Kino von daheim an, da gab es tatsächlich Verblüffendes zu sehen – wohlgemerkt in Nebenreihen und nicht im Wettbewerb. So viel zum guten Händchen der Auswahlgremien!
Sam Gabarskis ES WAR EINMAL IN DEUTSCHLAND erzählt von David, einem jüdischen Kaufmann, der nach Kriegsende ein florierendes Geschäft mit Wäsche aufbaut. Ein echtes Schlitzohr, ein windiger Hund, ein gerissener Kerl, der mit viel Sympathie von Moritz Bleibtreu gegeben wird. Dann zitiert man den Kaufmann zur Befragung, die klären soll, ob nicht mancher Jude im Krieg mit den Nazis kollaborierte. Gabarski erzählt kurzweilig, mit viel Humor und großer Empathie von mindestens merkwürdiger Schuld, vom Hunger nach Leben und von manch’ notwendiger Lüge, mit der ein Weitermachen überhaupt erst möglich ist.
Ins Jetzt katapultiert einen der Film TIGER GIRL, der frischen Wind ins deutsche Kino bringt, weil sich die Filmemacher etwas trauen: Sie pfeifen in ihrer bisweilen sehr taffen Geschichte von der Freundschaft zweier Mädchen auf Genrekonventionen, schielen ein wenig nach THELMA & LOUISE, inszenieren krasse Battles, von denen es wahrlich nicht wenige gibt, in Martial-Arts-Manier und fahren zumindest zu Beginn des Films ein ungeheures, comicartiges Tempo auf, wenn sie die wütende Tiger als Schutzengel an Vanillas Seite immer dann auftauchen lassen, wenn die Kacke am Dampfen ist, wenn (männliche) Gewalt droht, der nur mit (weiblicher) Gegengewalt beizukommen ist. Und selbst wenn der Film in eine etwas ruhigere Tonspur gerät und mancher Provokation ein bißchen Glaubwürdigkeit opfert, bleibt TIGER GIRL doch immer ein Stück wildes, rotziges und unkonventionelles Stück Kino.
Da geht es in Matti Geschonnecks IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS wesentlich gebändigter zu, auch wenn er in der Bestsellerverfilmung natürlich von unbändigen Zeiten erzählt. Es sind die letzten Tage der DDR, der Funktionär Powileit verschließt Augen und Herz, wenn er sich jubilierende Pionierständchen, schleimerische Grußbotschaften und ein üppiges Buffet zum 90. Geburtstag auffahren und sich noch ein wenig mehr Lametta an die schon schwer behangene Ordensbrust heften läßt, um nur kein Wörtchen über Wandel, Kollaps und Massenflucht zu verlieren. Doch dann erfährt er, warum sein Lieblingsenkel Sascha nicht zum Gratulieren erscheint ...
Geschonneck erzählt von einer bleiernen Zeit, als das Private in höchstem Maße politisch wurde, er erzählt in angenehm gemäßigtem Tempo mit feinem Witz und keiner unnötigen Ausschmückung von dem Herbst, in dem ein Land seine Kinder und damit auch seine Zukunft verlor. Großartig angeführt wird das beeindruckende Schauspielerensemble von Bruno Ganz und Sylvester Groth.
„Frauenfilme“ ist ein scheußlicher Begriff, er fiel trotzdem immer wieder im Rahmen des Festivals, wohl auch deshalb, weil ein wenig verkrampft mit den schwachen „Männerfilmen“ des Festivals – vor allem im Wettbewerb – abgerechnet werden sollte. Zwei der schönsten von Frauen erzählenden Filmen kamen indes aus Männerhand und -kopf und -herz.
UNA MUJER FANTÁSTICA war vielleicht der unvergeßlichste Film der Berlinale, was vor allem an Daniela Vega liegt. Sie spielt die Titelfigur, sie lebt die Titelfigur, Parallelen zum eigenen Leben waren sicher hilfreich beim Eintauchen in eine vom Schicksal geprüfte und von den Reaktionen der Familie ihres Liebhabers nach dessen Ableben schwer enttäuschte Frau, die vor einigen Jahren rein äußerlich noch ein Mann war. Aura indes kann man nicht erlernen, die hat man und Vega eben davon eine Menge. Dieser endtraurige Mund, dieser kämpferische Schritt, diese Eloquenz und Eleganz, wenn ihre Marina neben dem Job als Kellnerin Barlieder und Arien singt – das ist eine Offenbarung im Kino!
Regisseur Sebastián Lelio erzählt zu Beginn in Almodóvarscher Manier, emanzipiert sich und seine Heldin dann zunehmend, entflicht eine filmisch beeindruckende, anrührende und dabei frei von jeder Sentimentalität gehaltene Geschichte über Vorurteile, familiäre Gehässigkeit, einen verstaubten, zu Gewalt führenden Machismo und Marinas unbeirrbaren Kampf um ihr Recht auf Trauer.
Ganz anders, aber auch vom Abschiednehmen erzählt Martin Provost in EIN KUSS VON BÉATRICE. Auf diesen Anruf hatte Claire eher nicht gewartet: Béatrice spricht auf den AB, ein Treffen steht an, Claire bleibt gegenüber der impulsiven Frau oft nur die Abkehr. Vorwürfe, Schuldzuweisungen und eine immense Wut stehen im Raum – ist Béatrice doch die letzte Frau von Claires Vaters, bevor dieser sich nach der Trennung durch Béatrice umbrachte. Provost erzählt gottlob kein knöchernes Drama, er konzentriert sich auf die Annäherung der zwei total gegensätzlichen Frauen mit ungeheurem Witz, in ausreichender Skizzierung von Milieus zwischen Stuckrelief und Plattenbau, und er kann seinem eigenen Drehbuch bestens vertrauen – ausbalanciert in einer Melange aus verbalen Giftpfeilen und anrührender Nächstenliebe.
Béatrice nämlich ist schwer krank, und es hat aus dem Mund der immer großen Catherine Deneuve mindestens einen doppelten Boden, wenn sie trotzig, kämpferisch und eigentlich auch augenzwinkernd einfordert: „Je veux vivre!“ Ihr zur Seite steht übrigens eine weitere Catherine, La Frot nämlich, der Leser ahnt also, was da schauspielerisch aufgefahren wird.
Kämpferisch geriet auch der Künstlerinnen- und Liebesfilm MAUDIE von Aisling Walsh, in dem die unvergleichbare Sally Hawkins die von Kindheit an unter schwerer Arthritis leidende Maud spielt. Abgeschoben vom eigenen Bruder, bricht sie aus dem Haus ihrer dominanten Tante aus, um ein eigenes Leben zu führen, was ihr allerseits abgesprochen wird – als „Krüppel“ mit diesen verwachsenen Knochen! Der Blick des Fischers Everett ist auch ein schräger, als dieses kleine Wesen sich meldet, um sich als Haushaltshilfe zu verdingen. Everett ist ein Rohling, bisweilen brutal, und daß aus den beiden tatsächlich ein Paar wird, liegt an Mauds großem Herzen, das selbst aus Everett einen anderen Menschen macht. Maud beginnt zu malen, erst im Haus, auf kleinen Brettchen, dann interessieren sich erste Sammler und schließlich bestellt sogar Nixon ein Bild von ihr ...
Walsh stellt uns mit MAUDIE einen ganz besonderen Menschen vor – frech, witzig, ein wenig naiv und trotzdem klug und vor allem einen, mit der Fähigkeit zu lieben. Das mag konventionell erzählt anmuten, ist in den Bildern auch eher gesetzt als bahnbrechend, was indes ein Segen ist, weil es vom Kern einer zutiefst humanistischen Geschichte über die Sperrigkeit des Glücks nicht ablenkt. Maudies Glaube an das Gute im Menschen wird sogar nach dem Lüften dunkelster Familienlügen nicht versiegen, und wenn man in Hawkins Gesicht schaut, daß traurige Momente durch ein Lachen aus den Angeln zu heben vermag, möchte man auch wesentlich zuversichtlicher an die Menschen glauben.
Die Sektion „Panorama“ ist aus Tradition dem Queer Cinema verschrieben, und da tat es gut zu sehen, daß der klassischen Coming-Out-Teenie-Geschichte kein größerer Platz angedacht wurde. Natürlich wurde in vielen Beiträgen von der Schwierigkeit schwuler Liebe erzählt, aber eben nicht auf ausgetretenen Wegen und in einfach zu häufig gefaßter Gestalt. DIE WUNDE von John Trengove wußte nachhaltig zu beeindrucken. Er erzählt von Xolani, der seine Arbeit in der Fabrik kurzzeitig unterbricht, um auf Wunsch eines Verwandten beim Beschneidungsritual der Xhosa als „Caregiver“ mitzuwirken. Ihm wird dabei der junge Kwanda zugeführt, ein verwöhnter Teen aus Johannesburg, der ziemlich schnell hinter Xolanis Geheimnis kommt: Er liebt Vija, einen anderen „Betreuer“, der im Gegensatz zu Xolani extrem weit entfernt davon ist, zu seinen Gefühlen zu stehen.
Trengove erzählt von Barbarei, nichts anderes sind die Beschneidung und das Brechen von Charakteren im Rahmen der Initiation. Wir erhalten Einblick in einen abstoßenden, zutiefst feindlichen, aggressiven Machismo, der gottlob mittlerweile weit entfernt ist von gelebter Realität in Südafrika. Aber eben immer noch existiert, davon gilt es zu erzählen, und für solche aufwühlenden, wütend machenden Geschichten ist das „Panorama“ einst erdacht worden.
Aufwühlend, mitreißend und durchaus zu Tränen rührend geriet die Geschichte GOD’S OWN COUNTRY von Francis Lee. Mit Johnny möchte man echt nicht tauschen. Die tägliche harte Arbeit auf der Farm des Vaters, der nach einem Schlaganfall ausfällt und allenfalls Zurechtweisendes seinem Sohn entgegenschleudert, die heimlichen Treffs auf Toiletten oder Viehwaggons zum Sex mit anderen Männern – es ist eine stumpfsinnige, eintönige Existenz, die Johnny zu einem rauhen, sich häufig besaufenden und wortkargen Typen gemacht haben. Und einem (auf sich) wütenden zudem. Das bekommt auch der für die Viehzucht und Landarbeit angeheuerte Rumäne Gheorghe zu spüren, der aber wehrt sich. Und in dieser Gegenwehr liegt der Schlüssel zu einem empfindsameren, sich verliebenden Johnny, der das ruppig startende Glück beinahe wieder richtig versemmelt.
Lee erzählt in seinem komplexen Film gottlob nicht von Homophobie in ländlichen Gefilden, dafür sehr körperlich und in einer gewissen Lust von Rivalität, Anziehung, Verdrängung, echter Liebe, familiärer Annäherung, dem „Erlernen“ von Zärtlichkeit und der Fragilität von zum Heulen schönen Hoffnungsmomenten. Und wenn zum Schluß Johnnys Vater sein „That’s Ok“gibt, und Patrick Wolf (kein anderer konnte es sein!) vom Entfliehen der Leere und Einsamkeit in „The Days“ anhebt, sollte das letzte Herz aus Stein weich werden. Wenn nicht, dann ist wirklich alles verloren.
[ Michael Eckhardt/Richard Knauer ]