3 TAGE IN QUIBERON
[ 02.03.2018 ] Wenn im Editorial dieser Ausgabe der Vergleich zwischen Filmkritikern und Perlentauchern bemüht wird, dann darf man nicht verschweigen, daß selbst unter den 20 bis 30 im Laufe einer Woche gesehenen Filmen – aus über 400 Werken mühselig ausgesucht – sich nicht wenige eher als getarnte Schafsköttel denn wahre Perlen entpuppen. Um aber gerecht zu bleiben: Im Festivaljahrgang 2018 waren nicht wenige der tatsächlich ausgemachten Kostbarkeiten Vertreter des deutschen Kinos! Diesen soll sich hier vornehmlich gewidmet werden.
Fangen wir an mit STYX, einem Film von Wolfgang Fischer. Selten wurde derart packend, aufwühlend und in kluger Reduktion der Mittel von Mut erzählt. Und zugleich von Feigheit und Arroganz. Mindestens mutig ist die Ärztin Rike. Im Arbeitsalltag resolut und ganz die Ruhe, selbst dann, wenn es Leben zu retten gilt. Mit gleicher Souveränität bereitet sie den Segeltörn auf dem Atlantik in Richtung Afrika vor, auf den sie sich allein begibt. Eine Frau und das Meer, zwischen berauschendem Einhandsegeln und teils kräftezehrendem Überlebenskampf, wenn die Stürme mal wieder übernehmen. Als Rike dann in Distanz einen schrottreifen Fischkutter mit unzähligen Menschen an Bord ausmacht, sie die Küstenwache alarmiert, stundenlang auf die angekündigte Hilfe wartet, schließlich den 14jährigen Flüchtlingsjungen Kingsley vor dem Ertrinken rettet, schickt sie an die ignoranten Behörden ein letztes, ihr eigenes Sinken vortäuschendes Rettungssignal, bevor sie gemeinsam mit Kingsley den Trawler kentert ...
Der Blick in das endtraurige Gesicht des Jungen, diese unfaßbare Verzweiflung, da er beim Sprung ins Wasser seine Schwester auf dem Kutter zurückgelassen hat, diese ins Mark fahrende Selbstzerfleischung Rikes, was denn das Richtige zu tun wäre, diese Zerrissenheit, weil sie auf die Fragen des Jungen einfach keine Antwort hat, all das macht STYX zu einem hochspannenden Kinostück, zu einem Film als wütende Spiegelung unserer aus den Fugen geratenen Welt, zu einer anklagenden Abrechnung mit dem Hochmut und der Lebensfremdheit der Mächtigen. Dem Regisseur gelingt trotz der Weite des Meeres eine Intensität auf engstem Raum, er gibt der puren Not durch Kingsleys Blick und seinen malträtierten Körper wirkungsvoller ein Gesicht, als es Zahlen, Analysen und Zeitungsberichte, an die wir uns eh in aller Bequemlichkeit gewöhnt haben, könnten, ein Gesicht, das uns verfolgen wird.
Das zunehmend traurige, sein Schicksal mehr und mehr verstehende, schon deswegen auch wütende Gesicht von ADAM geht einem ebenso nach, dabei war man schon fast verblüfft, mit welcher Festigkeit der Teenager die Diagnose seiner unheilbar kranken Mutter, die nach exzessivem Drogen- und Alkoholkonsum zum Pflegefall wird, zunächst ertragen hat. Doch bald schon, nach hilflosen Versuchen, die Fürsorge für seine Mama zu übernehmen, den zum Scheitern verdammten Ansätzen, ihrem letzten Wunsch nachzukommen, sie doch bitte zu töten, wenn sie eines Tages plemplem würde wie Oma, nach unzähligen Tagen zwischen Tütensuppe und dem Kleben an der Baßbox, um Mamas Singstimme zu spüren, ist der gehörlose Junge nur noch allein und kann endlich weinen, auch wenn die Tränen nichts Kathartisches haben. Maria Solrun erzählt eindringlich und schnörkellos, sie bringt uns geschickt und fast wie nebenher die ganz andere Wahrnehmung der Welt durch Gehörlose nahe und kann auf den formidablen Hauptdarsteller Magnus Mariuson vertrauen. Hier sollte sich unbedingt ein Verleih finden lassen, selten sah deutsches „Jugendkino“ so kraftvoll, selbstverständlich und frei von verkrampft pädagogischen Werten aus.
Mit welcher Eleganz, in welch’ teils magischer Stille man von Liebessehnsucht, von Einsamkeit und der für gar nicht so wenige Menschen überlebenswichtigen Notwendigkeit von Struktur erzählen kann, beweist Thomas Stubers IN DEN GÄNGEN. In drei Namenskapiteln erzählt er von Christian, Marion und Bruno, die im Großmarkt arbeiten, wobei die sich vorsichtig anbahnende Sehnsuchtsgeschichte von Frischling Christian und Miss Süßwaren Marion im Zentrum steht. Stuber läßt uns in einen eigenwilligen Mikrokosmos tauchen, blickt in den Arbeitsalltag einfacher Leute, und es gelingt ihm, in teils tänzerischen Bildern mit Gabelstaplerfahrten durch die nächtlichen Verkaufsregale zu den Klängen von Strauß’ „An der schönen blauen Donau“ ohne Verbitterung davon zu erzählen, wie armselig und verzweifelt unser Leben doch manchmal ist. Dieser Blick in abgearbeitete, aber mit scheuer Hoffnung erfüllte Gesichter, dieses Aufgehen der wunderbaren Schauspieler Franz Rogowski und Sandra Hüller in ihren Kittelschürzen und das Eintauchen in diese originäre Welt zwischen Getränkekisten und Palmenpostertapete stehen für einen poetischen Realismus, wie es ihn nach Andreas Dresens frühen Filmen lange nicht mehr gab.
Und weiter geht es mit überzeugendem Kino von zu Hause: Emily Atef ist mit 3 TAGE IN QUIBERON ein ganz großer Wurf gelungen! Ach was großer Wurf, es geschieht eine komplette Verzauberung, ein Lebensereignis für den Kinozuschauer, weil er Zeuge eines unglaublichen Wiedergangs wird. Marie Bäumer wird zu Romy Schneider, genau, sie spielt sie nicht einfach nur, sie verfängt sich nicht in hohlen Posen, sie wird zum Weltstar! Erzählt wird aus dem letzten Lebensjahr Schneiders, als sie in körperlich und seelisch schlechter Verfassung einen Bretagne-Aufenthalt dafür nutzt, um dem „Stern“ eines ihrer seltenen Interviews zu gewähren, vor allem, weil ein enger Freund, der Fotograf Robert Lebeck, die Bilder dazu liefern soll. Die Gespräche werden zu einer Tour de force für die komplett zerrissene, an sich und dem Leben zweifelnde Schauspielerin, die sich in kindlicher Kühnheit einem Interview stellt, das eher inquisitorischen Verhörcharakter hat.
Bäumer spielt Schneider verletzt und impulsiv, naiv und intelligent, besonnen und furchtlos, großzügig und zerstörerisch. Man kriegt, zumal als Anhänger Schneiders, den Mund kaum zu, wie Bäumer dieses Zögern und Zweifeln, diese Ruhelosigkeit und Grenzgänge umsetzt, wie schön sie ist sowieso, und man bewundert, wie Atef und ihr Kameramann Thomas Kiennast legendäre Fotos von Lebeck in Filmszenen wandeln. Die Entscheidung, in Schwarzweiß zu drehen, ist klug zu nennen, ein gutes Jahr vor dem Tod Romy Schneiders und nur wenige Wochen vor der wohl größten Katastrophe im Privaten, dem Unfalltod ihres erst 14jährigen Sohnes David, sind die Farben bereits aus dem Leben der einzigartigen Künstlerin gewichen. Berechtigte Zweifel am Ansinnen des Films gab es nach MARLENE und HILDE, 3 TAGE IN QUIBERON hingegen überzeugt uneingeschränkt, es ist ein schonungsloser, dabei ungemein zärtlicher und würdevoller Film geworden.
Das ewige schreckliche Kind des deutschen Films Oskar Roehler war natürlich nicht zur Berlinale eingeladen, seine Filme sind den braven Geschmackspolizisten der Auswahlgremien nicht offiziös oder nicht kompliziert genug oder dann doch wieder zu kantig für den Mainstream, was für den Zuschauer mehr als in Ordnung geht, denn Roehler bleibt auch mit HERRLICHE ZEITEN der Stachel im fettgeförderten Deutschfilmarsch. Sein neuester Film lief in der Sonderreihe Lola@Berlinale, die sich der Longlist potentieller Deutscher-Filmpreis-Träger widmet, und er ist eine hundsgemeine Attacke aufs Spießertum geworden. Roehler enttarnt all die depressiven Luxusweibchen und Porschefahrer und auch die, die es zu beidem nicht geschafft haben. Die, die gern spießig wären, sich aber noch nicht einmal diesen Status leisten können, sind in Roehlers Augen vielleicht die schlimmsten, wir wissen, er pflegt ja ohnehin einen gesunden misanthropischen Argwohn gegen eine ausgestellte Normalität. Wir lernen Evi und Claus kennen, sie kuriert ihre seelischen Verstimmungen aus und versorgt den prächtigen Neurosengarten, er saugt Leuten die Wampe flach. Toll wäre, wenn man bei derartigem Streß eine Haushaltshilfe hätte! Und so wehren sich die beiden eher nicht, als Herr Bartos an der Tür schellt, um seine Dienste anzubieten, entgeltlos und ohne Grenzen. Doch moderne Sklaverei hat ihren Preis ...
Roehler und seine furchtlosen Schauspieler Katja Riemann und Oliver Masucci geben dem Affen richtig Zucker, wir lernen, daß die meisten von uns zum Gehorsam zu groß und zum Gebieten zu klein sind, und daß man skeptisch bleiben soll, da nach Rosenblättern im Bad und Handtuchschwänen auf dem Ehebett nicht selten auch die Kettensäge folgt. Und allein die Szene der Komplettentgleisung von Dr. Claus Müller-Todt am Absaugtisch sollte dem Regienachwuchs zwangsverschrieben werden, um zu lernen, was sich deutsches Kino bitte sehr erlauben darf.
Nach so viel Begeisterung für das heimische Kino soll Platz für einen Film aus dem internationalen Wettbewerbsprogramm sein, noch dazu für einen, der einem für ewig nachgehen wird! Wie erzählt man von modernem Horror? Vom Grauen, das durch den zunehmenden Terror längst massiv Eingriff in unseren Alltag genommen hat? Vielleicht tut man dies, als gäbe es die alltäglichen Meldungen in der Häufigkeit noch gar nicht, vielleicht dadurch, daß man den Opfern Gesichter und Namen gibt, man von Kaja und Emilia, von Tobias und Oda erzählt? So macht es der erschütterndste Wettbewerbsbeitrag UTØYA, 22. JULI, der das Massaker des Neonazis Anders Breivik 2011 auf der norwegischen Insel Utøya thematisiert. Breivik ließ in Oslo eine Bombe hochgehen, um die Aufmerksamkeit der Polizei zu lenken und schließlich ungestört nach Utøya zu schippern, wo er dann Teilnehmer eines Sommerlagers der Norwegischen Arbeiterpartei wahllos niedermetzelte.
Regisseur Erik Poppe vermeidet es, dem Wahnsinn ein Gesicht zu geben, die Fratze Breiviks ist eh jedem bekannt, Poppe bleibt bei den Opfern, er erzählt ohne nennenswerten Schnitt in einer minutiös auf die Hetzjagd Breiviks getakteten Einstellung von der Panik und Flucht der jungen Menschen, er zeigt die sich vor Furcht krümmenden Leiber, schaut in die vor Angst entstellten Gesichter. Es sind Bilder, die kaum auszuhalten sind, ebenso wenig die anhaltenden Schüsse, die Stille dazwischen ist fast noch schlimmer. Poppe gelang ein empathisches Zeugnis einer Welt, die komplett krank ist. Aussicht auf Heilung? Wenn man nach dem Film wieder an Paris, an Parkland oder an Orlando denkt, wohl eher nicht.
In der Panorama-Reihe laufen traditionell zahlreiche Filme des Queer Cinema. Im Jahr nach dem Ausscheiden das langjährigen Programmers Wieland Speck mußte man schon angestrengt nach entsprechenden Filmen suchen. Jedoch eine echte Entdeckung war zu machen – MARILYN. In ruhigen Bildern wird von Marcos erzählt, ein hübscher Junge mit sehnsuchtsvollem Blick, der in dieses abgestumpfte Leben in der argentinischen Pampa einfach nicht hineinpaßt: Er ist stiller, sanfter, intelligenter als die Anderen, sein Anderssein nehmen die Mutter und der Bruder mit Argwohn wahr, ausgerechnet der ihm nahestehende Vater verstirbt, Marcos ist den Feindseligkeiten und körperlichen Übergriffen der Dorfjugend ausgesetzt. Nur als er sich zum Karneval schminkt und als Mädchen anzieht, fühlt er sich beim Tanzen zu Kumbia Queers Popschlager „Mi nombre es Marilyn“ kurz frei, alles vergessend, von Flügeln träumend, anmutig und schön, bis diesem Moment eine schlimme Vergewaltigung durch die Bauerntöpel folgt. In der naheliegenden Stadt trifft er in einem Geschäft auf Fede, ein scheuer Blick, ein zarter Flirt, und wenn Marcos schon bald nach dem ersten Treffen Fede fragt, ob er ihn liebt, geht das zwar schnell, man glaubt ihm aber uneingeschränkt den Ernst der Frage.
Regisseur Martín Rodríguez Redondo erzählt keine weitere Geschichte im Coming Out-Kosmos, dafür von einem krassen Bruch, von mütterlicher Feigheit, und so berührt es enorm, wenn Marcos’ Mutter Olga in Angst, Unwissenheit und vielleicht auch in mangelnder Liebe das Band zwischen ihr und Marcos, vom bereits einen ganzen Film tragenden Nachwuchstalent Walter Rodríguez gespielt, zertrennt und eine unumkehrbare Katastrophe heraufbeschwört.
MARILYN ist die filmische Spiegelung einer zunehmend feindlichen Welt, eine schockierende Parabel darauf, wie Dummheit ein junges Leben kaputtmachen kann.
[ Michael Eckhardt/Richard Knauer ]