SYSTEMSPRENGER

Von zerstörten Seelen, der Schönheit sich liebender Frauen und verbissenen Ideologien

Ein Rückblick auf die 69. Berlinale

[ 04.04.2019 ] Ausgerechnet Starbucks! Man hätte jede Wette im Leben geschlossen, daß man das Verschwinden einer Starbucks-Filiale nie, aber auch wirklich niemals vermissen würde, und nun kam mit der 69. Berlinale alles anders. Man ist ja neben Filmkritiker bisweilen auch Mensch, und der hat halt auch mal Kaffeedurst, und an dem gastronomisch ohnehin grenzwertig bestückten Potsdamer Platz trieb es einen in den letzten Jahren aus dem miefigen Berlinale-Palast oft genug in die Kaffeepause eben zu Starbucks.

Nun hat irgendein Schlauberger ein neues, wie auch immer geartetes Konzept für Shops und Gastronomie auf dem zugigen Platz erdacht, das sich momentan darin äußert, daß zahlreiche Geschäfte geschlossen und die ohnehin wenigen halbwegs sinnvollen ganz verschwunden sind. Dort, wo Starbucks residierte, gibt es jetzt den seelenlosen Donut-Laden „Brammibal’s“, der vom Namen her und in seiner kargen Plastestuhlausstattung doch eher an einen Frühhort für hyperaktive Daumenlutscher erinnert. Was all das mit der Berlinale zu tun hat? Gar nicht so wenig, denn eben an diesem Platz und während eben der diesjährigen, so lausigen Ausgabe des Festivals (der in den Vorjahren bereits viele schwache Ausgaben vorausgingen) kam man in den Pausen gehörig ins Nachdenken und landete dabei immer wieder bei der Festivalleitung Dieter Kosslicks.

Die Berlinale hat sich mit dieser ewig deutschen Sehnsucht nach Größe und Ausbreitung in die komplette Bedeutungslosigkeit manövriert! Das zeigte der glanzlose 2019er-Jahrgang aufs Deutlichste – der Wettbewerb ermüdend und ohne Relevanz für das aktuelle Kino, die Nebenreihen wie Panorama schwach und ideenlos kuratiert wie nie zuvor, und die deutschen Filme, bis auf sehr wenige Ausnahmen, sorgten für Weglaufgefühle zwischen Scham und Wut. Zuschauerfern, kinofeindlich und Steuergeld verschwendend zugleich – das fällt einem zum deutschen Kino der Berlinale ein, wenn man beispielsweise Angela Schanelecs ICH WAR ZUHAUSE, ABER ... durchgesessen hat. Ein Festival ist zum Feiern und zur Leistungsschau des Kinos gedacht, Kosslicks verkrampftes Bemühen um immerzu politisches Kino hat einem lauwarmen Programm den Weg gebahnt, das allenfalls parolenartig und kaum gesellschaftlich relevant ist, es taugt seit längerem immer mehr dazu, einem die Lust am Kino gründlich zu verderben. Deswegen ist es eine gute Nachricht, daß diese Ausgabe endlich die letzte unter Kosslicks Führung war. Es war beim scheidenden Festivalchef ohnehin wie in der deutschen Politik – das übliche Verkennen des eigenen Zenits.

Verwenden wir unsere Energie nun auf die wenigen Filme, die nachhaltig beeindruckten, ganze drei sollen es sein. Früh ins Festival startete der deutsche Wettbewerbsbeitrag SYSTEMSPRENGER von Nora Fingscheidt, und man kommt nicht umhin, dieser Kinowucht eine ähnliche Sprengkraft wie Xavier Dolans MOMMY zu attestieren. Erzählt wird von Benni, eigentlich Bernadette, und es gibt viele „Eigentlichs“ bei dieser Göre – eigentlich ein tolles Mädchen, eigentlich ein sehr sensibles, intelligentes Kind, auf den schnellen Blick eigentlich eine ganz normale, verspielte 9jährige. Wären da diese permanenten, für sie selbst und ihre Umwelt geradezu lebensgefährlichen Ausraster, Tobsüchte, Krampfattacken und Brüll-, Schrei- und Schlagmanöver nicht. Die Mutter ist überfordert, ein möglicher Vater längst verschwunden, die Behörden haben tatsächlich alles probiert, die noch passenden Einrichtungen sind gezählt, im Raum steht mal wieder dieser zerbrechliche Satz der emsigen Jugendamtsmitarbeiterin Frau Banafé: „Dieses Mal muß es klappen ...“ Dann taucht der Schulbegleiter Micha auf, ein Hoffnungsgesandter, einer mit Fehlern, klar, was sonst?

Die Leiden der jungen B. sind kaum zu ertragen für den Zuschauer, es rührt einen zu Tränen, wie ein so kleiner Mensch so aggressiv sein kann, wie ein so zartes Wesen so früh kaputtgemacht wurde, und man hält ihn wirklich kaum aus, diesen Druck auf der Brust. Fingscheidt ist nach dieser mutigen Ausnahmetortur klug genug, den Film trotz aller Radikalität auf traurige Weise leicht und umso erschütternder ausklingen zu lassen. Sie hat uns mit diesem Film über Einsamkeit und Überforderung, Liebesabstinenz und Enttäuschung Augen und Herzen geöffnet, wohl noch nie haben wir im Kino einen so kämpferischen, an sich selbst leidenden Menschen gesehen, der mit derartiger Inbrunst Freude und Zerstörung ausdrückt.

Einem ganz andersartig kaputten Menschen begegnen wir in SKIN von Guy Nattiv. Er erzählt die wahre Geschichte von Byron Widner, ein glühender Verfechter der White-Power-Bewegung in den USA, die alle Andersartigen, -farbigen und -liebenden abgrundtief haßt und zerstören will. Auch Byron schreckt vor heftigster körperlicher Gewalt nicht zurück, doch als er eine alleinerziehende Frau mit ihren drei Kindern kennenlernt, setzt ein langsames Umdenken ein. Der Ausstieg aus der Neonazi-Szene ist für ihn und seine neue Familie lebensgefährlich.

Klar, man hält auch diese Blut-und-Ehre-Szenarien, diese rohe Gewalt und das Zerstören von jungen Biographien kaum aus, man muß aber hinschauen, gerade weil diese menschenverachtenden Gruppen derzeit wieder an Rückenwind gewinnen. Der Film hat sicher ein paar arge Verknappungen, zum Beispiel, was die Rattenfänger-Akquise für den rechten Nachwuchs betrifft, aber er besticht in seiner beklemmenden Atmosphäre und dem mutigen Spiel Jamie Bells als Aussteiger Byron. SKIN ist kraftvolles, leidenschaftlich erzähltes Kino, das es hoffentlich auch dorthin schafft und nicht nur wieder auf DVD verramscht wird.

Und schließlich sei noch unbedingt ELISA Y MARCELA erwähnt, der neue Film von Isabel Coixet. Auch dies eine wahre Geschichte – von der wohl ersten gleichgeschlechtlichen Trauung in der Historie. Natürlich können die beiden auch wunderschön anzuschauenden Frauen Elisa und Marcela nicht auf herkömmliche Weise heiraten, wir schreiben das Jahr 1901, aus Elisa muß Mario werden, damit die Feindseligkeiten im Dorf, in dem beide zusammenleben und an dessen Schule sie unterrichten, ein Ende haben. Die Trauung glückt, doch schon bald keimt neuer Verdacht, die Übergriffe werden härter, die beiden Frauen müssen fliehen und landen im portugiesischen Gefängnis ...

Coixet erzählt verliebt, leidenschaftlich, voller Zärtlichkeit und Kampfgeist, sie ist dabei so wunderbar parteiisch, daß man gar nicht anders kann und will, als mit den beiden Frauen zu fiebern, sich über bäuerlichen Stumpfsinn zu empören und immer wieder diesen großartigen Schwarzweißbildern zu erliegen! Am Ende werden Elisa und Marcela ein überlebensgroßes Opfer bringen – für ihre Flucht nach Südamerika, für ihre Liebe! ELISA Y MARCELA ist eine Netflix-Produktion, was die üblichen Auswertungsmoralapostel auf den Plan rief und man gleich mal wieder zum Boykott blies, obwohl es hierfür ein Kinoauswertungsbekenntnis des Streamingdienstes gibt.

Daher an dieser Stelle noch ein paar Gedanken zur „Bedrohung“ durch Netflix und dem auch von deutschen Kinoverbänden ideologisch geführten Grabenkampf: Zum einen hätte es einen Film wie ELISA Y MARCELA ohne Netflix überhaupt nicht gegeben, weil die Zeiten sind, wie sie sind, und sich aktuell niemand an Thema und Aufwand der Produktion traute! Zum anderen ist es sicher richtig, nichts kampflos zu verschenken, aber Kompromisse findet man noch immer gemeinsam! Das Neuausrichten der eigenen Denke ist gefragt – ein Fenster von vier oder mehr Monaten zwischen Kinostart und weiterer Verwertung ist mittlerweile so weit entfernt vom Konsum- und Ausgehverhalten des Zuschauers, da müssen sich Verbände und Exklusivitätsverfechter bewegen.

Wäre dies früher geschehen, dann hätten Filme wie ROMA durchaus im Kino trotz paralleler Auswertung bei Netflix und gerade im Zuge der kräftigen OSCAR-Kampagne ihre Chance auf der großen Leinwand im Programmkino zweifelsfrei entfalten können. Dies wurde durch den sehr deutlichen Mahnfinger der AG Kino jedoch verhindert. Das Publikum ist doch nicht blöd und unmündig, statt Feindbilder zu kreieren, sollte man daher auf das Herausstellende am Kinoerlebnis verweisen. Schon deswegen wirken ausliegende Handzettel, so in einem Berliner Kino gesehen, auf denen „Netflix – Feind des Kinos!“ zu lesen ist, falsch, irritierend und verkrampft. Schon in sehr kurzer Zeit wird man schmunzeln über das dann einstige Kleinkindgestrampel, in dessen Zuge derzeit verbandsintern Druck auf Kinobetreiber ausgeübt und sich gegen modernes, vielfältigeres und somit publikumsnahes Filmsichten gewehrt wird.

Die phänomenalen 2018er-(Kino!-)Besucherzahlen in den USA, bekanntermaßen der Markt mit den meisten Netflix-Nutzern, zeigen doch ganz deutlich, daß Kino und Netflix bestens parallel funktionieren können. Mit Verlaub – ein Netflix-Abonnent ist nicht kinofeindlich, er ist im höchsten Maße kinoaffin! Und wenn ein Film all die Qualitäten mit sich bringt, daß er nur im Kino seinen wahren Zauber entfalten kann – wie eben ROMA – dann wird der Zuschauer das schon wissen. Und zur freundlichen Erinnerung – im Naturell jeder verbissenen Ideologie liegt nun mal, daß sie schon heute sehr gestrig ist.

[ Michael Eckhardt/Richard Knauer ]