HÅP/HOPE
[ 02.07.2020 ] Sie kennen Stefanie Giesinger nicht? Gut so, denn uns erging es mit vielen Festivalbesuchern kaum anders, sie war trotzdem im Rahmen der Partnerschaft mit einem Kosmetikhersteller das „Gesicht“ der diesjährigen Berlinale. Früher übernahmen dieses Amt übrigens Catherine Deneuve, Andie MacDowell, Julianne Moore, Juliette Binoche, Julia Roberts und andere Filmgrößen ... Mit Kinokunst hat Giesinger als Teilnehmerin der Trash-Show „Germany’s Next Topmodel“ naturgemäß nichts am Hut, damit paßt sie bestens zur zurückliegenden Ausgabe der Berlinale. Nun eilte den neuen Festivalmachern Carlos Chatrian und Mariette Rissenbeek der Ruf voraus, vornehmliche Cineasten zu sein, trotzdem geriet ihre erste Ausgabe so weit entfernt vom Kino wie nur möglich.
Vielleicht sollte man manch’ Geschriebenes auch gar nicht mehr so ernst nehmen, das Branchenmagazin „Blickpunkt: Film“ behauptete in dem ihm ureigenen Milchzahnjournalismus nämlich unerschütterlich, daß die neue Mannschaft mit dem Jubiläumsjahrgang ihre Feuertaufe bestanden hätte, und darüber hinaus seien Chatrian und Rissenbeek ein „energiegeladenes Duo.“ Pardon, entweder waren die Kollegen auf einem anderen Festival, oder sie haben die zehn Tage wohlverdient im Kinosaal gut durchgeschlafen, und was die Energie angeht, so wird man schon beim Betrachten eines Fotos der neuen Führungsriege schlagartig müde. So spannungslos, wie die beiden uns da entgegenschauen, geriet auch ihr Berliner Erstaufschlag. Man ist schon fast versucht, sich den in den letzten Jahren zunehmend als Klassenkasper gerierenden vormaligen Berlinale-Chef Dieter Kosslick zurückzuwünschen, derart verzweifelt hinterließ einen das ideenlose, mutlose und, gerade was das Jubiläum angeht, komplett glanzlose Festival. Also bitte, 70 Jahre! Da darf es doch wirklich ein bißchen Konfetti sein.
Natürlich fegen neue Besen anders, aber eine komplette Zuwendung zum Verschnarchten, zum Sperrigen, zum Verkopften und damit einhergehend eine Abkehr vom Kino in seinem ursprünglichen Sinn – das kann doch nicht die wahre Intention der neuen Macher sein. Wenn gerade einmal eine knappe Handvoll halbwegs überzeugender Filme im Aushängeschild des Festivals, dem Wettbewerb, zu sehen war, dann kommt einem für die Jahrgangsbeschreibung noch nicht einmal das Attribut „durchwachsen“ über die Lippen.
Alles ist weg! Das fiel einem als erstes auf, wenn man die Konsumbrache Potsdamer Platz (für die das Berlinale-Team gerechterweise nix kann) betrat. Der Bär ist aus den Festivalpostern verschwunden, die Stars mieden noch einmal mehr das Festival, außerdem waren von weit mehr als 140 Läden in den Potsdamer-Platz-Arkaden aktuell noch elf geöffnet, das CineStar-Kino wurde geschlossen, weshalb man sich verstärkt in das mindestens gewöhnungsbedürftige Kino Cubix am Alexanderplatz begeben mußte – wenn man es denn durch Kotzepfützen und Urinlachen, an Schnorrern und Druffis vorbei geschafft hat. Nun, die Berliner sind gottlob leidensfähig, das zeigen die durchaus stabilen Zahlen der zurückliegenden Ausgabe, für Branchenteilnehmer und für die Außenwirkung eines A-Festivals wurde die Berlinale in Ausrichtung und Programmierung trotzdem zum Martyrium.
So viel Lebenszeit für so wenig Film, denn mit Verlaub: Einen derart uninspirierten Wettbewerb wie in diesem Jahr dürfte es wohl in den letzten zwei, drei Jahrzehnten noch nicht gegeben haben, und die Berlinale ist für allerhand laue Jahrgänge bekannt. Überhaupt wird eins immer deutlicher: Die Perlen zieht es seit Jahren nach Cannes, nach Venedig, nach Toronto, und da kann es doch bei einem Neubeginn eigentlich nur „Attacke!“ heißen. Statt jedoch anzugreifen, geben sich die Festivalmacher gleich zu Beginn geschlagen und zeigen eben vergnügt das, was übrigbleibt. Die Berlinale als Resterampe.
Natürlich gab es einige sehenswerte Filme, die es schwer genug auszumachen galt. Die hier im Heft rezensierten deutschen Beiträge UNDINE und BERLIN ALEXANDERPLATZ waren beispielsweise wirklich überragend, gerade Letzterer ein imposanter Kraftakt, was der Jury bei der Preisvergabe natürlich nicht weiter auffiel. Aus Skandinavien liefen das mit Stellan Skarsgaard und Andrea Braen Hovig brillant besetzte Drama HÅP (HOPE) über die Zerreißprobe einer Patchwork-Familie, nachdem die Mutter von teils noch recht kleinen Kindern eine erneute Krebsdiagnose erhält, sowie der Film KØD & BLOD (WILDLAND), in dem das Teenagermädchen Ida nach dem Unfalltod ihrer trinkenden Mutter zu den einzig verbliebenen Verwandten muß – eine schwerkriminelle Tante mit ihren Söhnen, zu deren Tagesgeschäft das Eintreiben von Geldern gehört, wozu alle Mittel recht scheinen. Sidse Babett Knudsen spielt das matriarchalische Familienoberhaupt in einer beeindruckenden Wandelbarkeit, das Gesicht der noch sehr jungen Sandra Guldberg Kampp geht einem nicht mehr aus dem Sinn, von ihr möchte man im Kino mehr sehen. Beide Filme stehen für kraftvolles, aufwühlendes, auf den Punkt inszeniertes Kino, dafür war natürlich kein Platz im Wettbewerb, so etwas versteckte man mit Vorliebe in Nebenreihen.
Ebenfalls kein Platz war für Oskar Roehlers neuesten Film ENFANT TERRIBLE. Über den deutschen Filmemacher der Nachkriegszeit Rainer Werner Fassbinder! Fertig war der Film wohl termingerecht, wie konnte man daher sich gegen diesen Film entscheiden? Letztlich wäre dabei völlig egal gewesen, wie er nun geraten ist, allein das Thema, in dieser Stadt, diese wunderbare Steilvorlage einer Querverbindung zu BERLIN ALEXANDERPLATZ ... All das waren keine Argumente für das trübsichtige Auswahlkomitee. Cannes rieb sich die Hände, entschied ganz richtig – und mußte dann doch diesem doofen Virus und der ganzen Panik drumherum klein beigeben ...
Wenn einer wie Chatrian sich vor dem Festival in teils kryptischen Äußerungen verlor wie „Das Programm ist mehr als die Summe der ausgewählten Filme. Es ist das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Arbeitsprozesses, der vor allem ein Ziel verfolgt: Das Festival soll ein Bild entwickeln, das das Kino als narratives Medium zur Geltung bringt, das vom Menschen und seiner Welt erzählt", dann darf man gut und gerne etwas länger überlegen, ob man das jetzt auch verstanden hat, wenn er dann aber ergänzt, daß „die richtigen Filme entscheidend sind“, dann muß man diese auch einfordern. Wenn Chatrian seine eigene Auswahl in diesem Jahr kritiklos als die richtige für die Berlinale definierte, dann kann einem bange für die Zukunft werden. Mit dieser mediokren Auswahl zerkrümelt das Festival seinen A-Status und taugt allenfalls noch zu einem Tummelplatz für ein paar aufs Experimentelle, aufs Angestrengte und im Prinzip aufs kaum Schaubare Verschossene, die sich dafür gern und recht privat auch in einem brandenburgischen Vorort treffen könnten. So in aller Filmklub-Gemütlichkeit.
Resümierend muß man sagen, daß der schwer ersehnte Neuanfang ein Schuß nach hinten war, die Leidensfähigeren unter den Journalistenkollegen dürfen in 2021 beurteilen, ob Chatrian und seiner Mannschaft die Wende zum Guten noch glückt, die PLAYER-Redaktion verschreibt sich Selbstschutz und setzt im nächsten Jahr gerade aus Liebe zum Kino einfach mal aus.
[ Michael Eckhardt/Richard Knauer ]