Außer Atem

Viel passiert, viel gelernt – Blick auf eine Zeit zwischen Erschöpfung und Resilienz

[ 01.07.2021 ] Wir alle haben dazugelernt. Aber wie das beim Lernen oft so ist: Es war in den letzten 15 Monaten allerhand Wissenswertes, Schmerzliches, Interessantes, Entbehrliches, Ernüchterndes, Enttäuschendes, Irritierendes und Fragwürdiges dabei. Dieser Neulandgang, das (Ver-)Zweifeln, die Kulturlosigkeit, das Hadern und Bangen nach mehreren Etappen einer Krise, die vermutlich noch länger kein richtiges Ende finden wird, zogen sich durch alle Lebensbereiche und Verhältnisse: Arbeitsplatz und Kollegen, Freundeskreis und Familie, Nachbarschaft und Bekannte ... Jeder und vieles schienen sich in dieser Zeit zu wandeln: Die Gereiztheit nahm zu, mancher entpuppte sich in diesen schwierigen Monaten gar als trauriger Denunziant, andere versuchten sich als Hobbyvirologen und Freizeitstatistiker, die meisten von uns gingen auf Abstand, manche auf viel zu großen, um sich jemals wieder nahezukommen. Zur Begrüßung wurde sich im Armbereich verrenkt, mancher hob gar salopp das Bein zum Gruße, es wurde nachgeplappert statt selbst gedacht, sich gefürchtet statt reflektiert, und aktuell klopft man sich gegenseitig nach dem Impfstatus ab, was fraglos auch Ausdruck eines furchtgesäumten Selbstberuhigungsversuches ist. Es ist wahrlich viel passiert.



Über die deutsche Politik im großen und ganzen bleibt an sich nur zu sagen: Leichtfertig wurde Vertrauen verspielt, die Entscheider agierten fahrig, bisweilen wurde getrickst, in Willkür übertrieben, statt besonnen und dem Leben zugewandt zu agieren, ermahnte, verwarnte, drohte und schubste man uns in entmündigender Heimleiter-Pädagogik und jonglierte mit pathologischer Angst, was ja auch erstaunlich gut griff. Krumme Geschäfte wurden in den politischen Reihen gemacht, anderen Gaunern Tür und Tor geöffnet ... Kluge Stimmen indes ließ man ungehört verhallen, viel lieber verirrte man sich ins Nautische mit sogenannten Wellenbrechern, ins Militärische gar mit Blitz-Lockdowns, und wenn man dem Unsinn in eigener Sprache gar nicht mehr traute, wurden rotbäckig Gamechanger ins Spiel gebracht.



Eine neue Arroganz machte sich in Berlin breit, im Gesundheitsministerium hockte sich die Überheblichkeit zwischen das Ungeschick und die verlorengegangene Moral, sogenannte Gesundheitsexperten ohne jegliches Amt sorgten für schlechte Stimmung und damit eher Krankmachendes, zumal nicht zwingend durch Wahrheit belegt, oft reichten Glaskugelblicke, Schätzungen und Vermutungen, um den Menschen teilweise Unzumutbares zuzumuten. Zudem wurde manches Grundrecht gebogen, bis es diesen Namen nicht mehr verdiente, der Kanzlerin ans Herz gewachsene Zahlenfüchse ließen Rechenschieber glühen, um kleinstmögliche Zugeständnisse für so ein bißchen Freiheit herunterzukalkulieren. Und bei der Kinokultur schießlich wurde durch die entsprechende Ministerin zu lange und ohnehin unrühmlich in E und U unterschieden, was manche Kinokette und andere an den Unterstützungskriterien vorbeischrammende Betreiber doch sehr nahe an den Ruin brachte.



Wir mußten lernen, daß eine verteidigungswürdige Qualität der Demokratie für den Einzelnen zur Belastungsprobe werden konnte, immer dann, wenn das Äußern einer eigenen, von Regierungsempfehlungen abweichenden Meinung reflexartig das armselige Gebell über rechte oder andere doofe Lager aufheulen ließ. Wir haben gelernt, daß Galgenhumor und Satire, auch mal von sich äußernden Schauspielern, erkannt sein wollen, daß vom Maß abkommen und das Aushebeln vernunftgesteuerter Verhältnismäßigkeiten eben keine Lösungen waren, und daß Angststörungen sowieso kein Freibrief dafür sind, eine ganze Gesellschaft in Schach zu halten. Uns ist ein normales, gesundes Verhältnis zu Angst und Risiko regelrecht abhanden gekommen, Julian Nida-Rümelin schrieb dazu sehr trefflich in seinem klugen Buch „Die Realität des Risikos“, er forderte einen angemessenen Umgang mit Gefahren und Risiko, ein Leben ohne Unwägbarkeiten sei nun mal schlicht unmöglich.



Wir mußten lernen, wie die gute alte Tante Solidarität durch mißbräuchliche Begriffsauslegungen wie Isolation und Ausgrenzung an den Katzentisch gesetzt wurde, wie mal den Alten, dann den Jungen der schwarze Schuld-und-Sühne-Peter zugespielt wurde, gelernt haben wir außerdem, daß journalistischer Arbeit mit noch größerer Wachsamkeit begegnet werden muß, daß Talkshows zum öden Rundenziehen allzu eitler Zirkuspferde verkommen sind, daß daher das Zweifeln, das Hinterfragen und das Ziehen eigener Schlüsse gewiß unbequemer, aber nicht selten der Wahrheit zuträglicher sind.



Darüber hinaus haben wir aber auch Entscheidendes verlernt: Zum Beispiel, wie man miteinander spricht statt übereinander herzufallen, oder wie es die Schriftstellerin Leïla Slimani wesentlich besser formuliert: „Es ist nahezu unmöglich geworden, ambivalent zu sein, zu sagen, daß man für oder gegen eine Sache ist und dennoch die Perspektive des anderen verstehen kann.“ Viele von uns haben in der zu langen Zeit dann doch zu schnell verlernt, sich ohne Vorgaben zu verhalten, dieses Schielen auf Ministerpräsidentenrunden, Inzidenzpokerspiele und andere Auswüchse politischer Hilflosigkeit hat nicht wenigen von uns den Atem genommen. All dieses Lernen und Verlernen hat zu einer Erschöpfung geführt, die – im Bangen, daß die Sommermonate eben nicht nur eine Atempause sind – in den nächsten Wochen aufgearbeitet werden will.



Ob verziehen werden kann und muß, wie es der deutsche Gesundheitsminister sehr früh orakelte und dabei vielleicht schon an unsere Großmut ob seines eigenen Versagens appellierte, wird sich zeigen. Zu wünschen wäre jedoch, da diese herausfordernde Zeit ganz sicher bei jedem Spuren hinterließ, daß uns allen emotionale, körperliche, wirtschaftliche und zwischenmenschliche Resilienz gegeben ist.



Da die Hoffnung bekanntermaßen noch immer als Letzte von Bord geht, bleibt fürs Kino mindestens die Zuversicht, daß der Hunger nach Unterhaltung ein möglichst großes Publikum befällt, selbst in stabileren Zeiten half insbesondere das Lichtspiel zu Alltagsfluchten, die ein glücklicheres Dasein ja erst ermöglichen. Gottlob haben wir eins auf jeden Fall gelernt, und manch einer hat es vielleicht auch schon immer gewußt: Ein Leben ohne Kino ist möglich, aber sinnlos.

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.