DDR/D 1961-2007, 43 h min
Label: Absolut Medien
Genre: Dokumentation, Schicksal
Stab:
Regie: Winfried Junge, Barbara Junge
Drehbuch: Winfried Junge, Barbara Junge
Wo anfangen und wo aufhören, wenn man vom Leben erzählt? Wenn man Leben erzählt. Winfried Junge begann dort, wo sozusagen der Ernst des Ganzen anfängt – zum Schulanfang. Am 1. September 1961, nur wenige Tage nach dem Mauerbau, filmte Junge eine Schulklasse, in Golzow, Landkreis Seelow, Bezirk Frankfurt (Oder), in der DDR. Sechs- und siebenjährige Kinder wurden in ihrem Schulalltag begleitet, die Idee dahinter: Leben und Bildung in der DDR sollten dokumentiert werden, Chancengleichheit zwischen Dorf und Stadt gern gleich mit, Lebenswege und -läufe könnten dann über längere Zeit festgehalten werden. Was tatsächlich nach erwartbaren Querelen zwischen Wahrheit und Ideologie nur weiterging, als Junge die Idee eines abschließenden Films akzeptierte, der zum 50. Jahrestag der DDR 1999 gezeigt werden sollte.
Zur letzteren Vorführung kam es zum Glück nicht, und Junge, der ab Ende der 70er Jahre die Filme über die Kinder von Golzow gemeinsam mit seiner Frau Barbara fertigte, überstand künstlerisch nicht nur das Ende eines Gesellschaftssystems, er umschiffte über die Jahre immer wieder das drohende Ende dieser Arbeit – mal war sie aus ideologischen Gründen nicht mehr so recht gewollt, Kulturminister quatschten rein (man wollte zur Realitätsverzerrung gar ausgewählte Lehrer an die Schule delegieren!), dann war der DEFA das Material zu teuer, bisweilen hatte Junge auch selbst Zweifel am Sinn einer Fortführung.
Und gottlob, möchte man sagen, gehören zu Junges Eigenschaften wenn nicht gleich Rebellion in jedem Fall aber Charakter und Durchhaltevermögen – und Verantwortungsgefühl für „seine“ Kinder aus Golzow. Denn so gelang nichts weniger als Historisches! Nicht nur, daß DIE KINDER VON GOLZOW eine der umfassendsten Dokumentationen der Filmgeschichte ist, die letztlich über 43 Stunden umfassende Chronik ist vielschichtiges Porträt einer ganzen Generation, ein durchaus auch nostalgischer, aber immer wachsamer Blick auf den versuchten Sozialismus, und wenn einer wissen will, wie sich nicht wenige DDR-Bürger vor, zur und nach der Wende fühlten, der kommt gar nicht umhin, sich die nun komplett vorliegende Filmsammlung anzuschauen.
Es ist der ganz große Bogen, der Junge gelingt, wenn er in 20 Filmen, in mehr oder weniger umfangreichen Einzelporträts sich an die Fersen der Schulanfänger, später Auszubildenden, im Beruf Stehenden, an Erfahrungen Gewinnenden, an Zuständen Verzweifelnden, an Umständen Zweifelnden und sich teils aus sozialistischer Vollbetreuung Verabschiedenden und nun in rasch erlernter Selbständigkeit Neuerfindenden heftet. Dieses Golzow im Oderbruch und seine Menschen darin sind in ihren Lebenswegen gewiß nicht vollexemplarisch für ein ganzes Land, Städter werden auch andere Erfahrungen gemacht haben als eben die Golzower, aber dieses Eintauchen in Leben und der fortwährende Blick auf das, was ist und was kommt, ist durchaus relevant, führt zu Erkennen und Erkenntnis und löst dadurch pure Empathie beim Zuschauer aus.
Wir fiebern mit bei ersten Rechenaufgaben, beim Ringen um das erste selbstgeschriebene „A“, wir leiden mit bei milden Rügen durch die Lehrerin („Du hast mich enttäuscht, Brigitte!“). Ja, wir glauben, sie bald ziemlich gut zu kennen – Jürgen und Ilona, Jochen und Gudrun, Bernd und Elke, Dieter und Marie-Luise, Willy und eben Brigitte ... Der Blick in unschuldig lachende Kindergesichter, voller Freude über den ersten Schultag, dieses Strahlen beim Besuch einer Entenzucht, dieses Entdecken, wenn sich bei Manchem schon früh Talent, Interesse und Neigungen aufzeigen, die später im Beruflichen wurzelten – oder doch nur falsche Fährten legten. Leben eben. Überraschend, herausfordernd, gewiß nicht planbar – nicht mal in der DDR. Aus den Kindern wurden Maler und Maurer, Schlosser und Elektronikfacharbeiter, Laborantinnen und Technische Zeichnerinnen, Ingenieure und Parteifunktionäre. Es zog sie nach Berlin, Schwedt, Frankfurt (Oder), ins Nachbardorf oder als Reisekader gar nach Libyen.
Die Chronik ist also auch eine des Wandels – Landwirt in Golzow kam für die meisten nach der Schule, egal ob Abgang 8. oder 10. Klasse oder Abitur, nämlich nicht in Frage. Die Härte der Arbeit, von der die Filme auch Zeugnis liefern, schreckte wohl ab. Schaut man in die Gesichter und auf das Treiben der Kinder, kommt man nicht umhin festzustellen, daß sie anders als heutige Kinder waren. Das Fernsehen steckte in den Kinderschuhen, Computer gab es noch nicht, sie beschäftigten sich selbst, viel im Freien, scheinen mehr Träume gehabt zu haben und einen offeneren Blick ebenso.
DIE KINDER VON GOLZOW ist weit mehr als eine Langzeitbeobachtung von Heranwachsenden, wie nebenher erzählen die Junges Geschichtliches, nehmen uns mit auf eine Zeitreise, in der die deutschen Winter noch Schnee hatten, Menschen zum Brotkauf kilometerweit den Schlitten zogen, sie reißen Universelles an, wonach die (materiellen) Wünsche sich wohl doch nur marginal ändern. Klar, die Sorgen der Erwachsenen verschoben sich: War es früher eine einzige Not mit einer eigenen, ausreichend großen Wohnung, gehen nach der Wende die Angst vor dem Nichtgebrauchtwerden, die Hoffnung auf eine Arbeit, von der man leben kann, um.
Junges Interesse an „seinen“ Kinder ist für die erwähnte Empathie verantwortlich, denn weil man ihnen so nahe gekommen ist, rührt beispielsweise der frühe Tod Brigittes enorm an, Junge setzt deren Vita im Porträt ihres so jung verwaisten Sohnes Marcel fort, wiederum eine aufwühlende Lebensgeschichte. Jürgens Frustration zu sehen, wenn im neueröffneten Edeka die Hollandtomaten vergammeln, seine guten aber nicht mehr abgenommen werden, wenn er gar in die Alkoholsucht rutscht, berührt nachhaltig. Ebenso, wenn nicht Wenige neue Lebenspartner vor und nach der Wende finden, mit denen wiederum neue Familien gegründet werden, und auch, wenn Mancher zutiefst enttäuscht ist nach den Geschichten aus Wandlitz, weil er eben wirklich an die DDR als das bessere System glaubte.
Aus den Mündern der Porträtierten hat ein „Es war nicht alles schlecht, es war nicht alles falsch“ so gar nichts Unverbesserliches oder Rückwärtsgewandtes. Es ist nur die Wahrheit, denn in der DDR war tatsächlich nicht alles schlecht und alles falsch, so wie jetzt im wiedervereinigten Deutschland wohl kaum alles gut und alles richtig ist. Die meisten der Porträtierten halten die Wende schon für zwingend, an Stil und Hauruck darf man aber zweifeln. Außerdem: Junge bereitet ganz nebenher mit eigenen Erfahrungen und denen der Golzower dem Unsinn ein Ende, nach dem die DDR von Beginn an ein Unrechtsstaat war.
Man muß dem Regisseur ohnehin einen guten Stil attestieren, er fragt mal lenkend, mal provozierend, will natürlich aus den Gesprächen mit den ehemaligen Kindern, deren Angehörigen und dem Nachwuchs etwas erfahren. Er ist einfach neugierig genug, und so erzählt DIE KINDER VON GOLZOW auch immer von der Geduld und Hartnäckigkeit eines Filmemachers. Junge zeichnet Anteilnahme aus, weshalb nicht selten Freundschaften entstanden, und er wußte einfach, wann es genug ist, wann Rückzug empfohlen ist. Mit seinem einnehmenden Fragestil ziselierte er außerdem gerade jetzt hochaktuelle Fragen heraus: Wie offen ist der heutige Mensch denn überhaupt? Und wie frei ist er dabei?
Junges Langzeitdokumentation begann 1961 und endete im Jahr 2007, und Brechts Kinderhymne „Anmut sparet nicht noch Mühe“, die im Film ihren festen Anker hat, hallt sehr lange nach. Auf daß es den Kindern von Golzow gut gehen möge ...
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.