DDR/D 1961-92, 930 min
Label: Absolut Medien
Genre: Dokumentation
Regie: Winfried und Barbara Junge
Die Süddeutsche schrieb knapp: "Eine Sensation." Das trifft die Sache im Kern, das umreißt das Innovative, das Überraschende, das Unberechenbare dieser Langzeitdokumentation. Auch weil weder der Filmemacher Winfried Junge im Jahre 1961 tatsächlich wußte, wie lang, wie umfassend, auch - wenn überhaupt möglich - wie vollständig sein begleitender Blick auf eine Generation, auf die Stifte einer Schulklasse in Golzow, im Oderbruch, würde sein dürfen, sein können. Junge beklagt mehrmals über die Jahre hinweg die Materialknappheit, zwischen den Zeilen schwingt auch die Frage der Notwendigkeit - gestellt durch die DDR-Obrigkeit. Junge hat irgendwie immer weiter gemacht, das an sich ist die Sensation, der Eintrag ins Guinnessbuch nur müde glänzendes Beiwerk: Junge hat nunmehr 45 Jahre lang die Kinder von Golzow begleitet.
Die erste Box mit sechs DVD liegt vor, zwei weitere folgen, 18 DVD insgesamt. Ein Lebenswerk, ein Leben beobachtendes, kommentierendes, porträtierendes Werk - ein wertvolles Werk, weil es über Menschen berichtet, weil es von - im Prinzip - drei Gesellschaftssystemen erzählt, weil es festhält, was zu schnell vergessen wird, weil Junge gewissenhaft, dabei nicht penetrant dranbleibt, weil er sich wirklich interessiert. Die "Sensation" ist soziologisch wertvoll, filmhistorisch sowieso. Die erste DVD beinhaltet die Kurzfilme, mit denen alles begann. In WENN ICH ERST ZUR SCHULE GEH sieht man die sich raufenden, die lachenden, verschüchterten oder schon rotzfrechen Buben und Mädchen, an deren Leben wir Anteil haben werden: Jürgen, Elke, Gudrun, Brigitte, Ilona, Dieter ... Wir sehen das erste großgeschriebene "A", die ersten Tränen bei schlechten Noten, wir werden dadurch spätere Empfindlichkeiten verstehen.
Den etwas "agitatorischen" Ton verläßt Junge ganz rasch in den Episoden über die Kinder als Halbwüchsige, da wird alles lebendiger, da blickt er in den Alltag der Kleinen, der eben nicht immer rosig ist. Ilona muß schon als Kind, als ältestes eben, für ihre vier Geschwister sorgen, eine Rolle, die sie ausfüllt, auch überfordert, was sich in den schulischen Leistungen zeigt. Wir schauen in Winfrieds freches Gesicht, was ganz ernst wird, wenn es um technische Dinge geht. Eine Neigung, eine frühe Aufforderung zu einem späteren Beruf? Junge zeigt ganz klar, welche Kluft auch und gerade in der DDR in Versorgungsdingen, in Mentalitäten zwischen Stadt- und Landbevölkerung herrschte. In der Episode ICH SPRACH MIT EINEM MÄDCHEN nähert er sich auch poetisch der Denke junger Frauen an. Marie-Luise, hier nun Mary, weiß schon, was sie will, noch mehr, was sie nicht will. Sie ist fortschrittlich, nüchtern, sie erkennt die selbst in der DDR praktizierte, überlebensnotwendige Maxime: "Wie komme ich am besten zum Ziel?".
Die zweite DVD versteht sich als nicht immer ganz notwendige zusammenfassende Wiederholung, das braucht der aufmerksame Betrachter nicht wirklich - nicht gezeigte Szenen ergänzen und leiten zum Film DIESE GOLZOWER über, der sich als ganz intensiver Blick in den Alltag von DDR-Bürgern erweist. Hier stellt Junge launisch und charmant Fragen, auch an die Alten, die damals schon darunter litten, daß keiner der Jungen so richtig wissen will, wie es früher war. Man sieht die Golzower beim Probealarm, bei der Jagd, beim Sinnieren über das Wo, Woher, Wohin. Hier knacken die Filmemacher den an sich etwas strengeren Rahmen der Chronik ein wenig auf, es wird spielerischer erzählt, ganz nah dran sowieso.
Das Kernstück der ersten Box aber sind die LEBENSLÄUFE. Wir hören zum Einstieg noch-mals die kindlichen und doch schon stark reflektierenden Fragen: Warum Krieg in Vietnam, wie entstand der Mensch, wie kommt das Bild in die Glotze, warum heiraten und weshalb geht die Liebe durch den Magen? Die letzte Frage kommt von der pummeligen Brigitte, die einem besonders ans Herz wachsen wird. Da hatte Junge früh ein bestimmtes Gefühl ... Insgesamt neun der Golzower Kinder werden ins Zentrum gestellt. Sie erzählen über ihre Angst, manchmal einfach weiterzugehen (weshalb Jürgen nach der 8. Klasse die Schule abbrach), sie denken übers Älterwerden nach. Im Subtext werden einem der Unsinn und die Tortur heutiger Zwänge auf den Schulhöfen wie das Tragen und Werten von Markenklamotten noch mal deutlich. Wir sehen beispielhafte "Karrieren" wie die von Gudrun, von der Köchin zum FDJ-, später Parteikader, dann gar zur Bürgermeisterin. Wir sehen junge kritische Leute, die in die Stadt gingen, ernüchtert feststellen, daß Schwedt "nüscht zu bieten" hat. Gerührt ist man bei Brigitte, man erfährt, daß sie auch wegen ihrer Fülle geärgert wurde, sieht sie beim Sezieren von Geflügel und hat an ihrem simplen Traum teil: "Jemanden kennenlernen, der nicht trinkt ..."
Es sind Erwachsene geworden aus den Kindern. Aus dem einst so angstvoll auf die Vietnamfernsehbilder schauenden blonden Dieter wird ein bärtiger Bär, aus der zurückhaltenden Elke eine entschlossene Frau, die die Ehe als Zusammenschiebung empfindet, aus Marie-Luise wird die oft zu lange prüfende Mary, deren Ehrgeiz von der Zeit ausgebremst werden soll. Den Abschluß bilden erste Blicke auf das Jahr nach dem Mauerfall. Aus Golzow raus auf die Reeperbahn. Da wird deutlich wie gewöhnlich Geschichte manchmal sein kann. Unsere Helden werden unsicherer, rauher, roher, plötzlich geht es auch um Schuld, das Gefühl "beschissen worden zu sein". Ganz normale Menschen also, ganz normale Golzower. Junge gelingt es immer wieder den Bogen aus dem Vergangenen, dem Gegenwärtigen und der schon damals unsicheren Zukunft zu schlagen, er erwähnt, wie oft man doch vor der Frage stand, einfach aufzuhören, wie kompliziert es auch bei den Golzowern wird, sich ein Leben lang dem Blick der Kamera und dem eines Publikums auszusetzen. Unbefangenheit macht zunehmender Sorge Platz. Mit der eigenen "Anpassung" geht Junge offensiv, dabei recht charmant um, sieht man ihn doch, wie er von Egon Krenz eine Auszeichnung erhält. In diesem vorläufigen Abschluß zeigen sich Ängste und Sehnsüchte. "Man hätte noch vieles machen können ..." Die Rettung der DDR als Flickschusterei? Junge hört gut zu. Wenn es der Zuschauer ihm gleich tut, dann kann man durchaus noch mal darüber nachdenken, woraus Frust, Lethargie und auch Depression erwachsen.
Junge wertet auch, was als Dokumentarist sicher nicht gewöhnlich ist. Aber was ist schon üblich an diesem Mammutwerk? Junge übernimmt auch für seine Golzower Verantwortung, sie schenken ihm seit ihrer Kindheit Vertrauen. Das muß er sich immer wieder neu erarbeiten, aber er gibt neben einer tiefen Sympathie auch viel zurück: ein offenes Ohr, ein faires Gespräch auf gleicher Augenhöhe. Selbst die Frage, warum nun ausgerechnet Golzow? beantwortet der Kommentator erfrischend klar: "Warum nicht Golzow? Golzow, das macht die Sache vielleicht kleiner. Aber nicht klein!"
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.