Originaltitel: DOGVILLE
DK/S/GB/F/D/NL 2003, 178 min
Label: Concorde HE
Genre: Drama, Experimentalfilm, Thriller
Darsteller: Nicole Kidman, Lauren Bacall, Jeremy Davies, Ben Gazarra, James Caan, Udo Kier, Chloë Sevigny, Stell
Stab:
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
Stellen wir uns ein Dorf vor, irgendwo in den Rocky Mountains. Und wir müssen unsere Vorstellungskraft ernsthaft bemühen, denn dieses Dogville wurde auf den Boden einer Bühne gezeichnet. Die Kreidegevierte sind mit den Namen der Hausbewohner beschriftet, auf der Straße steht "Elm Street" geschrieben. Kostüme und sparsame Requisiten deuten das Amerika der 30er und 40er Jahre an, die Ärmlichkeit der großen Depression, zitieren späte Western- und frühe Gangster-Filme. Keine Wand versperrt die Sicht auf das Innenleben dieser Stadt, manchmal verschafft sich die Kamera Überblick aus der Vogelperspektive. Es ist Tag, solange die Scheinwerfer brennen, es wird Nacht, sobald man einen Mond unter die Studiodecke hängt und das Licht zurücknimmt.
Aus dem dunklen Nichts hinter dem Bühnenrand wird die schöne Grace von Pistolenschüssen nach Dogville getrieben. Tom, Schriftsteller, Philosoph und Sprecher des Dorfes, verbirgt sie vor den Verfolgern in der alten Mine. Daß sie länger bleiben darf, entscheidet tags darauf die Gemeindeversammlung. Grace bedankt sich, indem sie den Beschützern ihre verwöhnten Großstadthände zur Verfügung stellt: Gartenarbeit für Ma Ginger, Äpfel ernten, Pflegedienste an einer Behinderten, Gespräche mit dem blinden Alten McKay, dessen Hand auf ihrem Schenkel ruht. Doch inzwischen sucht auch die Polizei nach Grace, und den guten Menschen von Dogville bleibt nichts anderes übrig, als den Preis für ihre Güte gegen die Fremde zu erhöhen: mehr Arbeit, mehr Schelte, und die Hände der Männer machen auf ihren Schenkeln längst nicht mehr halt.
In einem Prolog und neun Kapiteln inszeniert Lars von Trier nicht nur die Passionsgeschichte der Grace, sondern allegorisch den Leidensweg der Gnade selbst, von Station zu Station fast unerträglich gesteigert. Gedemütigt wird sie, verraten, vergewaltigt, schließlich mit dem Hundehalsband an ein Eisenrad gekettet, bis sie nur noch gnadenlose Rache sein kann. Die Grundrisse von Dogville geben die Spielzüge vor - für einen gewagten Versuch über das Menschliche und das Hündische, nicht zuletzt für ein Experiment mit der Imaginationskraft des Zuschauers. Und es glückt. Die Mechanismen des Verfremdens und Distanzierens, jenes "Zeigen, daß man zeigt" des epischen Theaters von Brecht machen von Triers unbescheiden gewaltiges Gleichnis um Vergebung und Abhängigkeit emotional zugänglich, steigern die Empfindlichkeit für sparsam eingesetzte filmische Kunstgriffe und die moralischen Aporien des Finales. Brechts Seeräuber-Jenny könnte Dogville gut den Schlußakkord singen: "... die Stadt wird gemacht dem Erdboden gleich."
In DANCER IN THE DARK war das Pathos des Leidens durch gesungene und getanzte Passagen gebrochen. Hier ist es eine sonderbare, düstere Komik, die aus der Durchschaubarkeit von Kulissen und Figuren erwächst, vor allem aber aus dem nahezu gut gelaunten, altmodisch umständlichen Metatext, den ein Erzähler im Off den ungeheuerlichen Geschehnissen spricht. Den nicht weniger komischen Kommentar zum Schaffen Lars von Triers besorgen derweil andere und fragen, wie ein Däne sich gestatten darf, kritische Filme über Amerika, noch dazu unter Kollaboration einer wahren Ehrengarde US-amerikanischer Schauspieler zu machen, obwohl er noch nie dort war. Dabei meint von Trier doch immer nur die ganze Welt!
[ Sylvia Görke ]