Label: Pierrot Le Fou
Regie: Louis Malle
Man ist, wenn man sich diese fünf Filme von Louis Malle wieder ansieht, geneigt, etwas schrullig zu raunen: Das waren noch Filme, das waren noch Geschichten. Dieses Gefühl macht deutlich, daß neben den zu früh verstorbenen Truffaut und Kieslowski vor allem Malles vielfältiges Werk und sein zeitiger Tod im Jahr 1995 vor allem eines aufzeigen: eine Lücke im europäischen Kino. Malle, von dem immer wieder gesagt wurde, er liebte es, Mythen zu zerstören, war der erste der Nouvelle-Vague-Avantgardisten und zugleich einer, der sich diesem manchmal auch an Eitelkeit zu ersticken drohendem Dogma rasch entzog. Erwartungen wollte er nicht erfüllen, weshalb es ihn in den 70ern nach Amerika verschlug, wo er eine Handvoll sehr guter Filme wie ATLANTIC CITY oder PRETTY BABY drehte, weshalb er auch nach Indien ging und mit einem Dokumentarfilm zurückkehrte.
Seine ersten Schritte machte Louis Malle Mitte der 50er bei Bresson und Cousteau, und bereits im Alter von 25 debütierte er mit einem seiner stärksten Filme: FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT (Ascenseur pour lechafaud, 1957). Ein kühler, stilistisch reduzierter Thriller, der auf Umwegen von der Sehnsucht nach dem Glücklichsein erzählt. Maurice Ronet und Jeanne Moreau sind zu sehen als ungewöhnliches, durch ein Mißgeschick getrenntes Paar, mit krimineller Energie obzwar, aber vor allem in tiefer Liebe zugetan. Schon bei den inneren Monologen Moreaus, oder wie sie den Namen Julien flüstert, läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Sie wirkt ohnehin wie eine Außerirdische, die hohe Stirn, der scheue Blick - gegen das damals gängige Schönheitsideal à la Bardot. Tragendes Motiv dieses klug durchkomponierten Meisterwerks könnte durchaus das einer liebenden, suchenden Frau im regnerischen Paris sein. Und über allem schwebt der rauchige Trompeten-Jazz von Miles Davis ...
Jeanne Moreau spielt auch in DIE LIEBENDEN (Les amants, 1958) die Hauptrolle. Sie ist eine ihrer Ehe überdrüssige Frau, die Neues sucht, sich ihren Täuschungen stellt und am Ende die wahre Liebe finden wird, welche auf einem ganz seltsamen Weg zu ihr kommt. Malle räumt mit diesem seinerzeit auch wegen seiner Freizügigkeit und ins Zentrum gerückten Amoral umstrittenen Film mit einem antiquierten Blick der Männer auf die Frauen auf, er fordert mit seinem progressiven Werk nicht weniger ein, als daß Liebe nicht gesellschaftliches Zeremoniell sein sollte, sondern sich als wahrhaftiges Bekenntnis versteht. Lamour - une vraie force ...
Nach diesen wegbereitenden Filmen zeigte sich der Spieler in Malle, und er drehte mit ZAZIE (Zazie dans le métro, 1960) seinen verrücktesten, leicht durchgeknallten Film, jetzt auch in Farbe, über das verquere Aufeinandertreffen des kleinen Mädchens Zazie und seines schwulen Onkels in Paris. Das Kind will Metro fahren, dort wird gestreikt, und schon geht die plärrige, hochvergnügliche Odyssee des rotzfrechen Rackers im Plisseerock los. Malle wählte eine derbe Sprache und legte ein einfallsreiches Werk von enormem Tempo vor, das später auch für Jeunets AMÈLIE Pate gestanden haben dürfte. Zudem läßt das gehörige Anarcho-Potential dem Zuschauer kaum Luft zum Atmen, er wird von der Stelle weg mitgerissen, und Louis Malle entpuppt sich als Nestbeschmutzer, läßt er doch seine kleine Furie ganz schnippisch auf eine Bemerkung ihres Onkels erwidern: "Scheiß auf die Nouvelle Vague" ...
Malles - neben AUF WIEDERSEHEN KINDER - nachhaltigster Film dürfte die Adaption von Drieu La Rochelles DAS IRRLICHT (Le feu follet, 1963) sein. Angefangen zu drehen, hat er ihn in Farbe, beschloß klugerweise dann, daß dem Seelenzustand seines sich vom Leben verabschiedenden Antihelden doch Schwarzweiß viel besser stünde. Ein brillant agierender Maurice Ronet, der leider oft etwas unterschätzt wurde, gibt hier einen Pariser Bohemien, der ganz zielsicher auf den 23. Juli hinsteuert, der Tag, an dem er aufgeben wird, dem Leben nachzulaufen. Ein Süchtiger, ein nun nicht mehr Suchender, dessen Empfinden keine Liebe mehr kennt, einer, bei dem verzweifelte Hoffnung nur kurz und in klaren Worten auflodert. Als sein Anstaltsarzt beteuert "Alain, das Leben ist schön", bleiben ihm nur die Worte: "Sagen Sie mir doch wo, Herr Doktor!" Dieses Flehen ist knapp und bezeichnend, ist dieser Alain doch auch ein recht unreifer Typ, der es nicht akzeptiert, daß Jugend vorbeigeht. Ein schwermütiger Irrläufer. Als Regieassistent bei dieser Chronik eines angekündigten Todes stand ein hoffnungsvolles Talent in den Startlöchern: Volker Schloendorff.
Die Kompilation schließt mit der galligen KOMÖDIE IM MAI (Milou en mai, 1989), in der Malle doch auf elegante und witzige Weise die Bourgeoisie im Hintergrund der 68er-Ereignisse vorführt. Michel Piccoli spielt einen alten Winzer, dem die Mutter verstirbt und der empört erleben muß, wie eine Erbenschar rasch beginnt, in seinem anmutigen Haus Geschirr und Tafelsilber zu zählen. Die Unantastbarkeit des Freiheitlichen wird auch spöttisch hinterfragt. Piccoli konstatiert zudem, daß die Ehe das Grab der Liebe sei, und vielleicht ist dieser Film aus dem Spätwerk Malles auch seine ausgelassenste, spielerischste Arbeit. Daß Louis Malle neben seinem enormen künstlerischen Talent wahrscheinlich auch ein guter, wenigstens ein tierlieber Mensch war, sieht man schon daran, daß in fast jedem dieser Filme ein Kätzchen durchs Bild huscht ...
Die gewissenhaft konzipierte Sammlung wird durch Interviews, Kurzfilme und Dokumentationen bereichert. Als eine charmante, wehmütig stimmende Reise der Erinnerung entpuppt sich 26 FOIS LOUIS MALLE, die kurz und knapp alle 26 spiel- und dokumentarfilmischen Stationen dieses Ausnahmeregisseurs abgrast, neue Lust auf mehr schürt und die beim Betrachter eine gewisse Melancholie hinterläßt. Vous me manquez, Monsieur Malle.
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.