F/I 1970-73, 337 min
Label: Euro Video
Genre: Erotik, Komödie, Poesie
Regie: Pier Paolo Pasolini
Der Hessische Rundfunk titulierte mal „Regisseur, Literat, Künstler“ – als ob sich das ausschließe. Pasolini war noch viel mehr: katholischer Marxist, Bürgerschreck, Erzintellektueller, schwuler Kommunist, der aus der Partei flog, Prosaist, Lyriker, ein Kritiker der Macht und der Degeneration einer unmündigen, assimilierten Gesellschaft und auch Kenner der Unterwelt, des Milieus der Huren und Stricher.
Daß ihn ausgerechnet ein Junge von der Straße erschlug und verstümmelte, könnte fies feixende Ironie des Schicksals sein, wenn nicht immer wieder Vermutungen über politische Mordmotive aufkämen. Gerade nach Pasolinis letztem Film SALÒ ODER DIE 120 TAGE VON SODOM riefen Neofaschisten zum Mord an Italiens Musterprovokateur auf. Was bleibt, sind seine Stücke, Bücher, Schriften und natürlich seine Filme. Die nun auf DVD vorliegende „Trilogie des Lebens“, der die des „Todes“ nicht folgen konnte (SODOM war eben nur der erste Part), ist so ganz anders als Pasolinis frühere Bildnisse von der Mißgunst unter Nutten und der Verderbtheit eines verkommenen Subproletariats. Sie sind albern, teils klamaukartig, zudem frivol bis erotisch aufgeladen, wobei das Schielen auf Hosenschlitze, pralle Brüste und das voyeuristische Beobachten kleiner Sado-Maso-Nummern auf den heutigen Betrachter eher von erheiternder als denn erhitzender Wirkung ist. Skurril scheint da auch der Preisregen für DECAMERON – EROTISCHE EPISODEN AUS DEM MITTELALTER, EROTISCHE GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT und PASOLINIS TOLLDREISTE GESCHICHTEN in Cannes und auf der Berlinale. Aber gut, andere Zeiten ... Daß trotz veränderter Rezeptionsansprüche Pasolinis leichtfüßigere Werke dennoch von hohem visuellen und akustischen Wert sind, dafür stehen auch die Namen des damals noch sehr jungen Ausstatters Dante Ferretti und der Komponistenlegende Ennio Morricone, die Pasolini in seinem unfreiwilligen Spätwerk treu zur Seite standen.
Gemein ist den Filmen das Sprunghafte – szenisch, im Duktus und in der Figurenzeichnung. Pasolini skizziert grob, reist durch die Kontinente und Kulturen, beobachtet schöne schwarze Männer beim Sex, erzählt von der (Ver-)Käuflichkeit des Menschen und in EROTISCHE GESCHICHTEN endlich auch einmal fast ganzheitlich von sehnsuchtsvoller Liebe – der zwischen dem sexuell-potenten Jungen Nur-ed-Din und der Sklavin Zumurrud. In allen drei Filmen philosophiert das skandalumwitterte Enfant terrible des italienischen Kinos zudem über die Gerissenheit, die List und die ausgestellte Potenz in Form einer fast hysterischen Geilheit des gerade Stärkeren. Und auch Pasolinis Zuneigung zu rothaarigen Jungs zeigt sich gerade in den TOLLDREISTEN GESCHICHTEN ganz offensichtlich.
Das Bruchstückhafte ist tatsächlich allen drei Filmen eigen: Ein Film wie DECAMERON (1970) ist keine rationale Überlegung über die Welt, keine logische Argumentation, kein Urteil. Er ist eine Reihe von Bildern, von Geschichten. Wenige Worte, aber jeder Bildausschnitt ein Kunstwerk, bei dem das Auge verweilen könnte, ohne die Bedeutungsfülle auszuschöpfen. Wie vor einem Gemälde von Raffaello oder Caravaggio. Die Geschichten sind jene von Jungen, Frauen oder Alten auf der Straße, aus den Vororten von Rom, am Rande der modernen Welt, klassenlos, ohne Bewußtsein von der eigenen sozialen und politischen Funktion. Deswegen enthielt diese Schicht des Volkes, Pasolinis Meinung nach, archaische Wesenszüge, Reste einer alten Kultur, einer volkstümlichen, vorindustriellen. Deswegen waren die Straßengesichter am besten geeignet, um Geschichten aus dem Italien des Mittelalters zu verkörpern. Von Menschen, die wie zufällig auf die Welt gekommen sind: Diebe, Mörder, Kuppler, Dirnen. Alle sind aus dem Mutterschoß geboren – und so reich wie das Leben.
Es ist die Sicht eines Dichters auf die Welt, nüchtern, voller Liebe. Sie setzt sich fort in den zwei anderen Teilen der Trilogie: EROTISCHE GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT (1973) und PASOLINIS TOLLDREISTE GESCHICHTEN (1972) nach Geoffrey Chaucer. Pasolinis Blick ist hier das genaue Gegenteil von jenem bürgerlichen, den er verabscheute – ein Blick, der die Realität vergewaltigt, sie in Strukturen zwängt, hin zum Profit. Gegen diese „schändenden Augen“ hat Pasolini gekämpft.
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.