Der Film zum monströsen Datum wurde schon ausgestrahlt: am 11.September 2001, als Life-Übertragung - das Wirklichste, was die Wirklichkeitsmaschine Fernsehen zu bieten hat. Die Rechte am Remake wurden in Jahresrückblicken und Erschütterungssendungen bis zum "Ich kann es nicht mehr sehen" ausgeschöpft. Die kollektive mediale Erfahrung konnte das Paradoxon vom symbolischen Angriff auf symbolische Ziele mit konkreten Toten jedoch nicht auflösen.
Selbst ein elfköpfiger Kurzfilmdrache muß an dieser Aufgabe scheitern - wenn auch zum Teil grandios wie im Beitrag der Iranerin Samira Makhmalbaf, die die globale Tragweite des Ereignisses regionalen afghanischen Kinderaugen im iranischen Exil aussetzt. Der Vater von irgendwem ist in einen Brunnen gefallen, die Tante gesteinigt in Afghanistan, die Schweigeminute für fremde Tote vor einem Turmstellvertreter (das höchste Bauwerk am Ort ist ein Schornstein) fällt schwer. Beredtes Schweigen auch bei Claude Lelouch. In seinen Tonfilm hat sich "eine Stumme verirrt", eine taubstumme Französin in New York. Der Fernseher sendet seine apokalyptischen Aufnahmen ins leere Zimmer nebenan, den hellen Staub, der ihren Geliebten nach der Arbeit am World Trade Center bedeckt, kann sie nicht deuten. Ein kluger und ein stiller Blick auf das Nichtverstehenkönnen.
Andere sind lauter: Murmelndes Kopfrechnen mit den globalen Erschütterungen, mit Terroropfern in Beirut, Palästina, Srebrenica. Der Brite Ken Loach hat die Toten in Chile gezählt und läßt einen Flüchtling im Londoner Exil die wohl bittersten Beileidsgrüße an die Traumatisierten in New York schreiben - eine etwas scheele Abrechnung, die die Konkurrenzkämpfe des Weltmarktes auch auf dem Markt der Ermordeten für gültig erklärt. Zum wortreichen Jargon des Zornes gesellt sich in Amos Gitaïs etwas plattem Schlag auf den Hinterkopf der Medienmacher die hysterische Stimme einer Reporterin. Im Chaos eines Attentats in Jerusalem stellt sie sich Helfern in den Weg, beharrt auf ihrer Pflicht zur Berichterstattung. "New York ist mir scheißegal" brüllt sie ins Telefon, doch die Flugzeugbomben auf der anderen Seite der Erdkugel haben ihr schon längst Show und Sendeplatz gestohlen. Im mit allen stilistischen Mitteln geführten Freiheitskampf individueller Überlegungen gegen gesetzte Bilder gibt sich dann ein Mexikaner vorzeitig geschlagen. Regisseur Inárritu macht seiner visuellen Ratlosigkeit in einem Fast-Hörspiel Luft, in dem betende Indios, letzte Telefonate aus den Flugzeugen, Brand- und Vernichtungslärm die schwarze Leinwand so lange beschwören, bis sich aus dem Dunkel die Endlosschleife der Aufnahme eines New Yorker Todesspringers löst.
Elf Minuten, neun Sekunden und ein Bild - der Zahlencode war für alle verbindlich. Mit wieviel Phantasie und Gefühl man ihn übersetzen kann, beweist der einzige Amerikaner im Bunde. Sean Penn zoomt sich in eine kleine Wohnung im Schatten der Zwillingstürme. Eine welke Pflanze im Fenster und die Sommerkleider seiner verstorbenen Frau helfen dem alten Bewohner, den Glauben an ihre lebendige Gegenwart aufrecht zu erhalten. Als der Schatten mit den Türmen fällt, gibt das Licht den Blick frei: auf den Verlust einer Illusion.
Originaltitel: 11’09"01 SEPTEMBER 11
F 2002, 130 min
Verleih: Movienet
Genre: Kurzfilm, Polit, Experimentalfilm
Regie: Samira Makhmalbaf, Claude Lelouch, Youssef Chahine, Danis Tanovic, Idrissa Ouedraogo, Ken Loach, Ale
Kinostart: 28.11.02
[ Sylvia Görke ]