Originaltitel: 120 BATTEMENTS PAR MINUTE
F 2017, 144 min
FSK 16
Verleih: Salzgeber
Genre: Drama
Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel
Regie: Robin Campillo
Kinostart: 30.11.17
Noch nicht lange her, da regte Horst Seehofer an, HIV-Positive und AIDS-Kranke in „speziellen Heimen zu konzentrieren“, Peter Gauweiler nannte sie „Aussätzige.“ Heute hält eine Pille täglich die Infektion in Schach, außerdem gibt’s PrEP. Zweischneidig: Segen der Forschung hier, verlorener Schrecken dort. Einladung zu Desinteresse und Leichtsinn? Ein Film bringt zur rechten Zeit Vergangenes hoch.
120 BPM heißt er also, positioniert sich konträr zu Schongang-Sozialkitsch vom Schlage PHILADELPHIA. Ein ruppiges Erlebnis ist er, eine zornige Klage gegen verschlossene Augen und um die Toten. Im Zentrum will Act Up Paris Anfang der 90er unter Mitterands Regierung AIDS öffentlich thematisieren, aufklären, Druck machen. Dazu werden teils drastische Aktionen organisiert, die wachsende Zahl der Anhänger führt indes zu internen Streitigkeiten, Radikalisierung versus Dialogbestreben.
Gegensätzlichkeiten auch bei der Wahl inszenatorischer Mittel: Ungeschönte optische Nüchternheit trifft auf überraschende, fies hübsche Bildspielereien, etwa dann, wenn die aktivistenseitig blutrot gefärbte Seine im Abendlicht funkelt. Ein treibender Disco-Soundtrack umschmeichelt wie weggetreten tanzende Leiber, deren Besitzern es nur darum geht, für einige Minuten das private Elend zu ignorieren, keine Sorge um ständig fallende T4-Zellen – wir hören von 87 Stück, die Immunabwehr steht kurz vorm Kollaps, praktisch ein Todesurteil – zu hegen, mal zu vergessen, daß alle vier Stunden AZT oder DDI auf dem Einnahmeplan stehen. Junge, psychisch früh gealterte Menschen nennen absolut sicher medizinische Zungenbrecher, zählen Folgeerkrankungen auf, tragen einander zu Grabe.
Über weite Strecken wirkt jene Art der Erzählung fast unpersönlich, beobachtet distanziert, verweigert Nähe, quasi eine Bestandsaufnahme. Was nach Schwäche klingt, ist tatsächlich eine entscheidende Stärke, geteilter Ohnmacht wegen, transportierter Wut im Angesicht gesellschaftlicher Ignoranz, politischen Geplänkels und pharmazeutischer Gewinnmaximierung. Das Bemühen, durch eine Liebesgeschichte manchmal intimere Eckpunkte zu setzen, erschöpft sich nahezu folgerichtig vorerst in überflüssigen Standards à la Halbdunkelsex und Erinnerungsausflüge. Bis sie uns emotional völlig zerreißt: Seans Mutter, diese geradezu übermächtig starke, sich selbstvergessen aufopfernde Frau. Mama eben.
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...