Originaltitel: 12 JOURS
F 2017, 86 min
Verleih: Grandfilm
Genre: Dokumentation
Regie: Raymond Depardon
Kinostart: 14.06.18
Am Ende versuchen sie alle nur, über das Kuckucksnest zu fliegen. Besser, raus von dort. Hier geschieht es in Frankreich, doch es könnte überall sein, wo die zivilisierte Gesellschaft versucht, mit ihren Gestörten, Andersbegabten oder psychisch Versackten umzugehen. Das hat Grenzen. Doch wer legt sie fest?
Der legendäre Raymond Depardon arbeitet für 12 TAGE mit Codewörtern, die Alltagssprache sind und Meßlatten bezeichnen, Werte oder Stempel. Sie heißen Routine, Einzelfall und Norm, Recht, Wahrnehmung, Gesetz und Einspruch, Euer Ehren! Im konsequent kommentarlosen Aufzeigen von Tatsachen erreicht der eindringlich-mutige, wie am Schlafittchen packende Dokumentarfilm eine nahezu suggestive Wirkung. Ach, streichen Sie bitte dieses „nahezu!“
Namen von Orten und Protagonisten sind geändert, heißt es. So viel Anonymität muß sein. Das aber, was zu sehen ist, kann man nicht anonymisieren. In Frankreich läuft es über 90000 Mal im Jahr. Diese Zahl Frauen und Männer werden, laut Statistik, gegen ihren Willen und aus mannigfaltigen Gründen in eine Psychiatrie eingeliefert – nach Straftaten oder vielleicht davor, aus Selbstschutz oder Schutz der Mitbürger. De jure vergehen 12 TAGE, bis sich Patient und Justiz in den Kliniken treffen. So lang ist die Frist, bis eine Anhörung erfolgen muß.
Der Beginn, ein Thriller! Fast fünf Minuten fährt die Kamera durch stationäre Flure, ein Mikro läßt auf Geräusche hinter verschlossenen Türen horchen, nimmt verspielt den Geist von Szabó und Polanski auf. Bald aber ist jeder Gedanke an Spiel im Film verflogen. Depardon arbeitet fortan – es gibt nur zwei Unterbrechungen als musikunterlegte Denk- und Fühlpause – mit starren Aufnahmen aus einem einzigen Raum. Drei Perspektiven hat er dafür benutzt, je eine für Psychiatrieinsassen, Befrager und Totalen. Die Zimmer füllen sich auf mit Leiden und Fakten, Schicksalen, Hilflosig- und Hartnäckigkeiten, Wort gewordenen Paragraphen.
Und noch eine Zahl: 76 dieser Gespräche hat der gleichsam bald 76jährige Raymond Depardon aufgezeichnet. Zehn sind in seinem Film gelandet. Man kann sie nicht beschreiben, man muß sie sehen und mit ihnen in eine der größten menschlichen Zwickmühlen nicht nur dieser Zeit geraten.
„Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen führt über den Wahnsinnigen“, wird Foucault zitiert. Bis dorthin, machen wir uns nichts vor, ist Würde antastbar.
[ Andreas Körner ]