Es mag tausend verschiedene Weisen geben, um von einem Ort, seiner Geschichte, seinem Alltag und seinen Menschen zu berichten. Dem Filmemacher Arne Birkenstock genügen zwölf - zwölf Tangos, komponiert vom argentinischen Musiker Luis Borda und interpretiert von einem eigens zusammengestellten Orchester, das diesem Dokumentarfilmessay die Zwischenstücke, ja den eigentlichen Grundton spielt, letztlich dessen dramaturgische und emotionale Seele ausmacht. Beim Nachrechnen wird man auf andere Zahlen kommen - zwölf plus und mehr. Aber wer will schon rechnen, wenn man eine Stadt hören und sehen darf.
Buenos Aires heißt das Reiseziel. Der gesungene und getanzte Tango argentino, das Wehmütige, Unmäßige der Texte, die komplizierte Choreographie aus einverständlichem Miteinander und heilloser Flucht ist der symbolische Schlüssel zu den Stadttoren. Und das Bild trägt - sogar komplette argentinische Lebensgeschichten. Drei davon stehen hier im Vordergrund: der über siebzigjährige Tangotänzer Roberto Tornet, der die Welt bereiste und betanzte, seine Anfang zwanzigjährige Tanzpartnerin Marcela, die im tangowütigen Europa ihr Glück versuchen will, und die vierfache Mutter Yolanda, die nach Spanien putzen gehen wird, um ihre Kinder daheim ernähren zu können.
Der Tanzsaal ist die metaphorische Zentrifuge, an deren Rand sich die Nachwirkungen eines wirtschaftlichen und sozialen Supergaus ablagern. Selbst die Kinder, mit denen Birkenstock spricht, können ein Lied singen vom "Corralito" - so nennt man hier, beinahe zärtlich, die Insolvenz eines ganzen Staates, der sich nicht besser zu helfen wußte, als auf die Ersparnisse seiner Bürger zurückzugreifen. Roberto hat so ein Vermögen, die finanzielle Ungebundenheit, überhaupt ein Auskommen im Alter verloren, Yolanda die Arbeit, und Marcela ihre Zukunft - zumindest die in Argentinien.
Gerade diese politische, zeitkritische Perspektive macht aus Birkenstocks auch unterhaltsamem, auch verschmitztem, auch nostalgischem Film mehr als die Summe seiner Tangos. Unter dem immer subjektiven Blick auf eine Stadt, verkörpert durch ein offensichtlich tanzbares Lebensgefühl, entblößt Buenos Aires seine Facetten: Machismo, Sehnsucht, Pragmatismus - und vor allem der unendliche emotionale Raum zwischen Weggehen und Wiederkommen.
D 2005, 85 min
Verleih: Kinostar
Genre: Dokumentation, Musik
Darsteller: Roberto Tonet, Marcela Maiola, Yolanda Zubieta
Regie: Arne Birkenstock
Kinostart: 25.05.06
[ Sylvia Görke ]