Sunny, Toni, Krümel, JJ, Stöpsel, Soja und Za. Sieben von schätzungsweise 2000 Straßenkindern in Berlin. Sie kommen aus Kasachstan, dem Kosovo, Chemnitz und Jena. Alle haben Erfahrungen mit Drogen und Gewalt gemacht, sind von Zuhause weggelaufen, haben sich mit Betteln, Musik oder Prostitution ihren Lebensunterhalt verdient. Sie sind im Schnitt gerade mal 20 Jahre alt und haben doch schon mehr mitgemacht und ertragen als andere in der dreifachen Zeit.
Es ist, das muß man ganz klar sagen, ein beeindruckendes künstlerisches Experiment, das Maria Speth mit ihrem ersten Dokumentarfilm gewagt hat. Und es ist ganz und gar gelungen, denn der Film strahlt eine fesselnde Ruhe aus, die auch den Zuschauer nach wenigen Minuten ergreift. Man könnte es eine sterile Versuchsanordnung nennen, wenn die Jugendlichen nicht auf der Straße in ihrer gewohnten Umgebung interviewt werden, sondern in einem Studio vor einem strahlend weißen Hintergrund, alleine auf einem Stuhl sitzend. Tatsächlich haben sie hier so etwas wie einen geschützten Raum für sich gefunden und mit der Regisseurin ein Gegenüber, das in der Lage ist, Vertrauen aufzubauen. Die Offenheit, mit der hier erzählt wird, ist erstaunlich bis beklemmend.
Die sich an inhaltlichen Zusammenhängen orientierende Montage verknüpft die ganz individuellen Charakterzüge zu spannenden Dialogen über Themen wie Elternhaus, Freundschaften auf der Straße und Zukunftsaussichten. Dabei legen die Schwarzweißaufnahmen, die eine Reminiszenz an die dokumentarischen Fotoarbeiten von Richard Avedon sind, einen klaren Fokus auf die Persönlichkeiten. Es entstehen filmische Porträts wie in einer Ausstellung. Begleitet von der Musik der Porträtierten. Und das ist eine weitere Stärke des Films. Er löst die allgemeinen Vorurteile und Klischeevorstellungen von Straßenkindern auf, schaut hinter die Fassade von Tattoos und Piercings und entdeckt erstaunliche Talente.
Bei immer weniger Sendeplätzen für dokumentarische Formate im Fernsehen und schrumpfenden Budgets ist diese mutige Koproduktion des ZDF ein Hoffnungsschimmer und gerade im Kino absolut sehenswert. Am besten in der Kombination mit dem Film KLEINSTHEIM, der ein ähnliches Thema mit ganz anderen Mitteln darstellt und aufgrund fehlenden Interesses der Redakteure nur auf Kosten der Filmemacher hergestellt werden konnte.
D 2010, 109 min
Verleih: Peripher
Genre: Dokumentation
Stab:
Regie: Maria Speth
Drehbuch: Maria Speth
Kamera: Reinhold Vorschneider, Ingo Brückmann
Kinostart: 26.05.11
[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...