Der Film des Jahres – dürfte man kühn meinen. Kino für die Ewigkeit ohnehin. Denn so viel vorweg: Ein solch’ komplexes,in vielfältiger Weise berührendes, auf multiplen Ebenen funktionierendes und mit zahlreichen formalen Mitteln jonglierendes Kunstwerk ist lange nicht und vielleicht noch nie zu bestaunen gewesen. Wirklich und warum? Nun, ganz Ich-bezogen, das Recht der subjektiven Rezeption in Anspruch nehmend: Ich habe mich noch nie so verstanden gefühlt! Im Kino. Von einem einzigen Film. In gut anderthalb Stunden. Als Filmliebhaber, als schwuler Mann, als Ästhet, als begeisterungsfähiger Zuhörer aufwühlender Geschichten, als Optimist mit Brüchen, als ein Mensch mit Verlusterfahrung, als Zweifler, als Fragensteller im ewigen Bemühen um Zuversicht.
Und nun doch ein wenig objektiver: In all den Berührungspunkten, warum man eine derart erzählte Geschichte ganz für sich beansprucht, sich gar zur Behauptung hinreißen läßt, verstanden worden zu sein – damit kann man doch nicht allein stehen. Und das gibt dem Werk Allgemeingültigkeit, ohne zu verwässern, ohne den sogenannten Mainstream zu bedienen. Das will A SINGLE MAN nicht, das kann der Film auch nicht. Und zu alldem auch hier – wirklich und warum? Weil er hochstilisiert erzählt ist, ohne glatt zu sein, und weil er fordert, indem er auf vereinfachtes Erzählen verzichtet (Zu Recht, da das Fabulieren über bedingungslose Liebe Simplizität regelrecht verbietet!), weil der Film genau dort ausspart, wo der Zuschauer gefragt ist, und weil Tom Fords Regiedebüt die schönsten Künste zu einem aus der Masse regelrecht eruptiven Film verknüpft: Fotografie, Theater, Musik, Mode, Architektur. Das ist viel, aber nicht zu viel, das resultiert in ein Lichtspiel, das an die Grenzen geht, das an den Kräften zehrt – und dabei so viel Kraft gibt.
George Falconer ist Engländer, ein Mann in seinen besten Jahren, wie man so sagt, gutsituiert, erfolgreich – und allein. Oder besser einsam. Nicht weil er so gemünzt ist, nicht weil er die Menschen eher vertreibt, als sie anzuziehen, nein, weil sein Freund Jim verstarb. Durch einen blödsinnigen Unfall. Von einem Tag auf den nächsten ist die Liebe seines Lebens physisch nicht mehr da. The World Is In Disorder, und für George gerät das komplette Leben aus den Fugen, alles tut weh, das Haus scheint viel zu groß, der Tag so leer, die wohlmeinenden Worte der Freunde hallen blechern vorbei. Das Aufstehen am Morgen wird zur Tortur: In dem Moment, wenn George sich nun eine Pille einwirft, gab es bis vor kurzem immer einen pünktlichen Kuß. Die Mundwinkel im Spiegel haben sich verändert, Georges Maxime auch: „Just Get Through The Goddamned Day!“ George ist nicht verlassen worden, er hat sich nicht getrennt, er lebt nicht für sich in herkömmlicher Weise, er hat schlicht das Wichtigste in seinem Leben verloren. Deswegen ist er allein – oder besser einsam.
Davon erzählt Tom Ford. Er skizziert ein Gefühl, das viele Menschen in solcher Dimension, in derartiger Reinheit gar nicht (er)kennen. Und wie Ford erzählt! Er arbeitet sich durch wie ein Komponist, A SINGLE MAN funktioniert oft wie ein widerspenstiges Lied, mit starker Melodie, einem hohen Maß an Euphonie und trotzdem ohne allzu banalem Kehrreim. Vielleicht wie ein aus jeder Zeit gefallenes Konstantin-Gropper-Stück. Der frühere Modemacher arbeitet zudem mit einer Lichtsetzung, wie sie im Kino noch nie zu sehen war! Ja, allein dieses Licht ist in der Lage, für Momente das Kommando zu übernehmen, eben immer dann, wenn von Emotionen erzählt wird, von Gefühlen, von Veränderungen, die kaum zu bebildern sind, die – wenn man sie „zerquatschen“ würde – lächerlich schienen! Der Filmnovize Ford spielt mit Unschärfen, Kontrasten und grobkörnigem Raster, mit Formspielen in Schwarzweiß und verblassenden Bonbonfarben, er versteht das Interieur seines Films nicht als eben erforderliches Dekor, sondern als „Partner.“ Selbst die Mode der Hauptfiguren, der Baustil des Hauses, das fragile filmmusikalische Konzept – all das sind wichtige Komponenten in diesem Gesamtkunstwerk. Hier geht es nicht um den eitlen Einsatz schöner Etiketten, hier protzt kein peinlicher Manierismus, ganz im Gegenteil – dieses behutsame Verflechten oftmals als Oberfläche mißverstandener Ingredenzien eines zerrissenen Lebens dienen als Beweise dafür, wie nichtig all das Schöne, das Geschaffene, das Bequeme und – von mir aus – auch das Luxuriöse ist – wenn es nicht zu teilen ist mit denen, die man liebt. Und da ist Tom Ford ein bekennender Emotionalist. Ja, der Mann war Designer, das sieht man, das soll man sehen, nur so kann ihm dieser Film gelingen. Dem Regisseur die berufliche Herkunft vorzuwerfen, wäre ganz blödes Unrecht, dann müßte man dem Kinopoeten Jarman auch vorhalten, daß er Maler war.
A SINGLE MAN erzählt von Isolation. Und ergänzt gottlob, daß man auch in der Einsamkeit nicht immer allein ist. Und das ist das Große an diesem Film, das macht ihn auch „aushaltbar.“ George hat zwei Menschen in der Nähe: Seine wirklich wunderbare Freundin Charley ist für ihn da, und Kenny, einer seiner Studenten, interessiert sich in ernstgemeinter Absicht für Falconer. Gerade in diesen Begegnungen Georges – mit Charley und Kenny – beweist Ford ein immenses Gespür für Reduktion, für das Puristische des Moments. Das setzen seine auf den Punkt besetzten Schauspieler meisterlich um: Colin Firth spielt diesen verletzten Mann so überzeugend, daß es richtig mitschmerzt, wenn er leidet, daß seine Traurigkeit durchaus zur eigenen wird. Wie er das macht – diesen Zorn, diese Trauer, diese Hilflosigkeit im Gesicht, unglaublich! Dieses fast kühl wirkende Negieren, diese geordnete Organisation eines Abschieds – denn George will und kann wirklich nicht weiter.
Aber hier zeigt sich eine weitere Facette im Können Fords: Er setzt in einem todtraurigen Film komische Momente, nicht als aufgesetzte, verkrampft um Auflockerung bemühte Einsprengsel, nein, es ist wirklich komisch, wenn George sich mit der Knarre in den Schlafsack verkriecht, um bloß nicht die gute Bettwäsche zu ruinieren und der Haushälterin Mehrarbeit und optische Zumutung aufzuhalsen. Doch noch einmal zurück zu den Darstellern, wobei: Was soll man sagen, schreiben, fühlen, wenn Charley eben mit Julianne Moore besetzt ist? Vielleicht ist damit alles gesagt, trotzdem so viel noch: Diese Charley ist auch ein angeschossenes Tier, auch sie wurde verletzt, nur anders als George. Und Charley hilft sich mit Gin und langstieligen Zigaretten stilvoll über den Tag. Und so eine Figur, die sich manchmal im Eigennutz an ihren schwulen Freund klammert, die oft für ihn stark sein will, um dadurch selbst stärker zu sein, so eine Rolle ist wie gemacht für eine außerordentlich begabte, uneitle, mit ihren Sommersprossen fast transzendierend schöne Schauspielerin wie Julianne Moore.
Ihr Spiel, dazu die punktgenauen Dialoge und ein wunderbar eingefügter, nostalgisch gefärbter Tanz machen Fords Film auch zu einem Lehrstück für den perfekten Flirt. Auch hier sind keineswegs plumpes Begehren und schlichte Anmache gemeint, nein, viel ehrlicher sind diese Sehnsucht, der Respekt, die Bewunderung – für den guten Freund, die beste Freundin und auch für eine vielleicht doch neue Liebe. Denn die Momente, die wiederkehrenden Begegnungen zwischen Kenny und George sind ebenso gefilmt: als Flirt, voll purem Knistern und in stilvoller Zurückhaltung. Das paßt aber auch so gut zur Figur Georges: Natürlich hat er sich schon immer zu jüngeren Männern hingezogen gefühlt, aber eben nicht aus Gründen äußerlicher Makellosigkeit. Ihm gefällt die Selbstsicherheit der Jugend. Das hat er an Jim geliebt, das spürt er im Tabakladen, als ihn ein schicker Typ aus der Post-James-Dean-Ära umbuhlt, das lodert auf, als der Ephebe Kenny in diesem erotisch fusselnden Mohairpullover sich anschickt, mit seinen klugen Fragen, diesem knieerweichenden Blick aus den ozeanblauen Augen und jener ungezügelten Lust auf Spaß und Horizonterweiterung Georges Leben behutsam neu zu ordnen.
Welch’ Glück, möchte man meinen – wenn man kurz den Titel der Geschichte vergißt und ausblendet, daß eine richtige Liebe, keine Liebelei, kein Zeitvertreib, nein, eine richtige Liebe tatsächlich nicht zu ersetzen ist. Und wenn nicht diese blöde Eule kurz vor Filmschluß auftauchen würde ...
Originaltitel: A SINGLE MAN
USA 2009, 101 min
FSK 12
Verleih: Senator
Genre: Drama, Literaturverfilmung, Schwul-Lesbisch
Darsteller: Colin Firth, Julianne Moore, Matthew Goode, Nicholas Hoult
Regie: Tom Ford
Kinostart: 08.04.10
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.