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Abendland

Und die Nacht singt ihre Lieder

Auf der Sonnenseite des Lebens stehen redensartlich die, denen es besser geht, die ein unbeschwertes und sorgenfreies Leben führen können. Das christliche Abendland ist die geographische Entsprechung dieser Idee von Reichtum, Sicherheit und kultureller Überlegenheit. Der Österreicher Nikolaus Geyrhalter wirft einen entlarvenden Blick auf die, sagen wir, Schattenseite dieses sonnigen Fleckchens Erde namens Europa. Wie sieht dieses Land am Abend aus? Überraschend ist das, was er da in zwei Jahren im Lichte der Dunkelheit an Eindrücken gesammelt hat. Weite Bilder unserer Zivilisation. Ergreifend, erschreckend, erhellend.

Auf einer Frühchenstation wird ein vor Schläuchen kaum sichtbares Neugeborenes versorgt. In einem Fernsehstudio werden die Nachrichten produziert. In einer hell erleuchteten Produktionshalle wird konzentriert am Eurofighter gebaut. Und in einem Krematorium werden im Minutentakt Särge ins Feuer geschoben. Stille, die keine ist, begleitet diese Szenen. Die Nacht lauert überall, und es wird kaum gesprochen. Auch auf einen Kommentar wurde verzichtet. Stattdessen läßt der Regisseur seine Bilder sprechen. Und die haben viel zu erzählen. Jede Szene, die dazukommt, füllt die bereits gesehenen mit neuer Bedeutung auf. Das ist große Erzählkunst mit minimalsten filmischen Mitteln.

Dabei fällt auf, daß die gezeigten Orte nicht benannt werden. Sie sind geographisch austauschbar. Ob das Krematorium in Deutschland oder in Frankreich liegt, ist egal. Es geht nicht um die Länder und ihre kulturellen oder politischen Eigenheiten, sondern um die Gemeinschaft, die vielzitierte europäische Einheit und die Frage, ob es sie denn überhaupt gibt. Der Film betrachtet Europa als ein tatsächliches Ganzes. Ein privilegierter Lebensraum, der sich nach außen abgrenzt.

Deshalb ist Geyrhalter auch dabei, wenn eine Gruppe Roma umgesiedelt werden soll, oder an der spanisch-marokkanischen Grenze Streife gefahren wird. Überwachung ist allgegenwärtig und bei Nacht besonders gut sichtbar. Bildschirme und Kameras tauchen als Motiv immer wieder auf. Das Gut muß beschützt werden. Am Ende entsteht ein faszinierend vielschichtiges Porträt. Ein spannender Film, der berührt, der die Augen öffnet für das Nebeneinander von Überfluß und Leere, für die Möglichkeiten und Risiken unseres vermeintlichen Paradieses.

Österreich 2011, 90 min
Verleih: Real Fiction

Genre: Dokumentation

Stab:
Regie: Nikolaus Geyrhalter
Drehbuch: Nikolaus Geyrhalter
Kamera: Nikolaus Geyrhalter

Kinostart: 23.02.12

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...