Originaltitel: ABOUT RAY
USA 2015, 87 min
FSK 6
Verleih: Tobis
Genre: Drama
Darsteller: Elle Fanning, Naomi Watts, Susan Sarandon
Regie: Gaby Dellal
Kinostart: 08.12.16
Genau so macht man das! Von Bestimmung, von Transformation, von Befreiung, ach was, vom Leben überhaupt zu erzählen. Genau so, wie es Gaby Dellal in diesem wahrlich hinreißenden, auf den Punkt besetzten und – ja, weil es auch schwer anrührt – zum Heulen schönen Film macht. Man taucht sofort mitten rein, keine Umschweife, kein sperriger Anbau: Das neue, das wahre Leben von Ray wird verhandelt!
Und dabei bringt es Oma auf den Punkt: „Warum kann sie nicht einfach lesbisch sein? Und fertig!“ Weil er es nicht ist, weil Ray, der auf dem Papier Ramona heißt, ein Junge ist. Und auch wenn Rays Mama und seine in der Tat lesbische Oma (wobei Oma wirklich wie ein verbaler Fehlgriff klingt, wenn diese wie hier von einer furios aufspielenden Susan Sarandon gegeben wird) immer wieder hadern, sich fragen, ob ihre Zustimmung zur anstehenden Hormonbehandlung als Beginn einer Geschlechtsumwandlung die richtige Entscheidung ist, kennen sie die Antwort sowieso. Und um in der ohnehin für alle komplizierten Situation die Sorgenstirn dann einfach mal nur Sorgenstirn sein zu lassen, schrieb Gaby Dellal ganz wunderbare Vorschläge ins Drehbuch: „Wie wäre es mit einer Alternativbehandlung? – Dachtest Du an Akupunktur, oder was?“ Herrlich!
Mit Witz muß man so etwas erzählen, nicht zu viel Zeit für Betroffenheit verschwenden, weil diese an sich Selbstverständlichem blöd in die Beine grätschen würde. Deswegen erleben wir einen Typen, der überhaupt nicht hadert, Ray eben: 16 Jahre, ein musischer Junge, ein Sturkopf, der sich in übergroße Karohemden wirft, durch die Straßen New Yorks skatet, sich in ein Mädchen verliebt. Dabei läßt die wunderbare Elle Fanning keinen Zweifel daran, daß Ray ein Junge ist, ein echter, mit Titten halt, wie er selbst sagt. Diese traurigen, tiefen Augen, die hohe Stirn, die ängstlichen Blicke, wenn alles zu zerbrechen droht, diese Verletzbarkeit, die Wut und der Zorn, wenn sich Hindernisse auftun, mit denen nicht mehr zu rechnen war. Rays leiblicher Vater zum Beispiel. Die Eltern sind seit Jahren getrennt, kein Kontakt nirgends, aber ohne den Erzeuger geht es wohl nicht, beide Unterschriften werden benötigt, wenn ein Minderjähriger zu seinem wahren Ich finden muß.
Dellal entflicht dazu eine aufreibende Geschichte über Stolz, Schattenspringen und doch ganz schön tief sitzende Verletzungen, der Film kriegt darüber das notwendige Lot. Es geht nicht in Schwarzweiß, es gibt nicht nur Gut und Böse, jeder tritt mal daneben, jeder hat sein Bündel zu schleppen: Rays Mama Maggie, die mit Sohnemann im Schlepp wieder bei ihrer Mutter einziehen muß und sich mit einem Liebhaber amourös eher klapprig über Wasser hält, Oma Dolly, die sich spät, aber gottlob nicht zu spät zu ihrer Liebe Frances bekannte, Rays Vater, der trotz neuer Familie und Nullkontakt zu Ray ganz gewiß Liebe zu seinem Kind empfindet, und von den Sorgen Rays mal ganz abgesehen, dessen große Sehnsucht ist, daß die lebenslange Suche nach Narben am eigenen Körper, weil irgendwas zu fehlen scheint, endlich aufhört.
ALLE FARBEN DES LEBENS erzählt eine berührende, durchaus mit kräftigem Witz gewürzte, wunderbar verknappte Geschichte, kein schwerer Problemfilm, der auf Verständnis und Sympathie zielt. Braucht es alles nicht, ein Blick auf den Haufen, der jetzt unter einem Dach lebt, genügt, um das Herz zu öffnen, alle Stärken sind zum Niederknien, die des Zusammenhalts, der immensen Liebe und eben auch die einer Dissenskultur. Dolly beispielsweise weiß von sich am besten: Nur weil man Frauen liebt, muß man nicht weltoffen sein. Dellal erzählt vom Miteinander dreier Generationen, und wenn man kurz versucht ist, ob Maggies Geheimnis aus der Vergangenheit einen Konflikt zu viel zu wittern, erzählt Dellal eben derart gekonnt davon, daß es ohne diesen Hintergrund nicht funktioniert. Und noch einmal kurz zum Heulpotential. Allzu verständlich sind Maggies Sorgen: „Wer wird ihn denn lieben?“ Oma Dolly hält lebensklugen Rat parat: „Es ändern sich nur Details!“ Und damit hat sie recht. Die Welt bleibt die gleiche, manchmal lebenswert, oft herausfordernd und nicht selten bigott, was den Humanismus anbelangt. Wenn es um gesundes Wasser für alle geht, wird an Menschlichkeit erinnert, wenn es um Rays Bestimmung geht, klebt keiner Poster.
Aber wie gesagt: Damit zurechtzukommen, dafür reichen ein Schulterzucken, ein Zwinkern, ein Schluck aus der Rotweinpulle und dieser tolle familiäre Zusammenhalt. Kein schwerer Problemfilm, ein Glück!
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.