Zum ersten Mal flimmerte ALLES ANDERE ZEIGT DIE ZEIT zur Eröffnung des Leipziger DOK-Festivals über die Leinwand. Andreas Voigt begrüßte die Gäste im Premierenkino, eilte dann aber in den Hauptbahnhof, wo die Langzeitbeobachtung parallel vor hunderten Zuschauern umsonst gezeigt wurde. Die Reaktionen der „normalen“ Menschen interessieren Voigt einfach mehr – egal, ob er gerade dreht oder nicht.
Mit seinem aktuellen Film hat der noch bei der DEFA ausgebildete Regisseur den sechsten Teil des sogenannten „Leipzig-Zyklus“ vorgelegt. Er beschreibt darin mit großer Genauigkeit und Wärme, wie verschiedene Menschen die Veränderungen der letzten 25 Jahre erlebt haben. Voigt versucht, seinem Gegenüber immer auf Augenhöhe zu begegnen und die Geschichten konsequent aus der Perspektive der Protagonisten zu erzählen. Dafür nimmt er sich selbst und die eigene Meinung oft sogar ein Stück weit zurück.
Beim Skinhead Sven, der orientierungslos zwischen Links und Rechts zu pendeln scheint, heißt das, daß keine der politischen Kehrtwenden und nicht mal das Furor Teutonicus-Tattoo von Voigt hinterfragt oder kritisiert werden. Das Gleiche gilt für die Entwicklung der Ex-Punkerin Isabell, die einst den Kapitalismus verdammte und heute in Stuttgart als Insolvenzverwalterin im dicken Auto unterwegs ist. Voigt zeigt, was er erlebt, und überläßt uns das Urteil. Bei der dritten Hauptperson Renate fehlen schließlich aktuelle Bilder. Die Journalistin war beim letzten Drehtermin schon nicht mehr am Leben. Dennoch ergänzt ihre Geschichte die der anderen sehr gut, denn sie war 1989 älter als Sven und Isabell und hatte deshalb im DDR-System schon Wurzeln geschlagen. Ihr fiel der Neuanfang schwerer. Es ist berührend zu sehen, wie die Verwundungen der Geschichte von Generation zu Generation weitergetragen werden. Heute kämpft Renates Tochter mit dem schwierigen Erbe, das ihre Mutter ihr unfreiwillig hinterließ.
Manche nennen ALLES ANDERE ZEIGT DIE ZEIT einen Leipzig-Film. Das stimmt einerseits, weil die Bilder der maroden Straßenzüge des Leipziger Westens den Film strukturieren, andererseits erzählt Voigt hier Geschichten vom Leben und Scheitern, die zusammengenommen ein kleines, aber wahres Kaleidoskop einer Gesellschaft ergeben, die bis heute versucht, 1989 und die Folgen zu verarbeiten. Voigt nutzt seine Kamera dabei ganz bewußt nicht als Instrument der Beweissicherung, sondern als Spiegel, den er jedem vorhält, der sich traut, einen Blick zu riskieren. Egal, ob aus Leipzig oder in Wuppertal.
D 2015, 94 min
FSK 0
Verleih: Kinemathek
Genre: Dokumentation, Schicksal
Stab:
Regie: Andreas Voigt
Drehbuch: Andreas Voigt
Kinostart: 28.01.16
[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.