„Verzweifelt nicht: Einer der Diebe wurde gerettet. Freut euch nicht: Einer der Diebe wurde verdammt.“ Was Augustinus über die beiden gemeinsam mit Jesus Gekreuzigten zu sagen hatte, stellt John Michael McDonagh seinem neuen Film voran. Nur, um unmittelbar darauf auf das Gesicht dieses Mannes zu schneiden. Ein Gesicht, in das das Leben schon tiefe Falten eingekerbt hat, und in dem Augen ruhen, die schon viel gesehen haben, viel Schlechtes und Böses auch. Aber in denen sich dennoch dieses wache Leuchten innerer Kraft bewahrt hat. Dank des Glaubens. Oder der persönlichen Charakterstärke, der psychischen Kondition.
Dorfpriester Lavelle ist es, der uns aus seinem Beichtstuhl entgegenblickt. Und er wird auch den Blick nicht abwenden von uns, wenn die Stimme jenes Sünders erklingt, der von der anderen Seite des Beichtstuhles aus, ruhig aber bestimmt, Ungeheuerliches zu sagen hat. Etwa, daß er schon als Kind erfahren durfte, wie Sperma schmeckt, weil ihn ein Amtskollege Lavelles mehrfach sexuell mißbraucht hat. Vom siebten bis zum elften Lebensjahr, um genau zu sein. Wieder und wieder. Und ohne, daß dieses Kind imstande war, sich dessen erwehren zu können. Und ohne, daß später dann der Mann, der aus diesem Kind wurde, jemals in der Lage war, herauszutreten aus dem Schatten dieser Ereignisse, dem Seelendunkel, in dem er seitdem eingesperrt ist. Aber jetzt, jetzt weiß er, wie er die Tür ins Licht aufstoßen kann: Mit einer Tat, die so unsinnig scheint wie nur irgendwas, die aber in einer Welt, in der es geschehen kann, daß die Unschuld zertreten wird, wie eben die jenes mißbrauchten Kindes, von einer tieferen Logik ist: Es gilt, einen guten Menschen zu töten, einfach, weil er gut ist. Einen Unschuldigen, einfach, weil er unschuldig ist. Einen moralisch integeren Mann, einfach, weil er moralisch integer ist. So wie Pater Lavelle, dem der Fremde im Beichtstuhl dann noch eine Woche Lebenszeit zugesteht, bevor er ihn töten würde. Schließlich starb auch Jesus für die Sünden der anderen.
Im Grunde müßte man für AM SONNTAG BIST DU TOT jene Regelung einführen, die tatsächlich Hitchcock einst für PSYCHO durchsetzen konnte: Nach Beginn des Films darf keiner mehr in den Kinosaal. Der Gedanke, daß während dieser, in einer einzigen, hochkonzentrierten Einstellung gedrehten, Eröffnungssequenz Zuschauer mit Popcorn-Eimern durchs Bild latschen, läßt fast so etwas wie alttestamentarischen Zorn aufflammen.
Schließlich ist man selbst eher kein Mensch vom Format Lavelles, der nach diesem großartigen Anfang durch diesen auch weiterhin großartigen Film wandelt in Gestalt des, um das Adjektiv zum dritten Mal zu strapazieren, wie gehabt großartigen Brendon Gleeson. Absolut souverän entfaltet McDonagh (der mit Gleeson schon den ebenfalls formidablen THE GUARD drehte) Handlung und Figurenensemble in diesem Küstenkaff der verlorenen Seelen.
Rauher Witz und tiefste Verzweiflung sitzen dort dicht bei dicht am Pub-Tresen. Und dann dieses Finale: Ja, das ist so konsequent, wie es sich gehört. Und dieser Film, er endet, wie er begann: mit einem Blick in ein Gesicht. Nicht das Lavelles, sondern das eines gequälten Menschen zwischen Rettung und Verdammnis.
Originaltitel: CALVARY
Irland/GB 2014, 105 min
FSK 16
Verleih: Ascot
Genre: Drama, Thriller
Darsteller: Brendan Gleeson, Chris O'Dowd, Kelly Reilly, Aidan Gillen, Isaach de Bankolé
Regie: John Michael McDonagh
Kinostart: 23.10.14
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.