Originaltitel: ANATOMIE DE UNE CHUTE
F 2023, 151 min
FSK 12
Verleih: Plaion
Genre: Drama, Thriller
Darsteller: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Samuel Theis, Antoine Reinartz
Regie: Justine Triet
Kinostart: 02.11.23
Eine Frau. Ein Mann. Eine Lüge. Und Sandra Hüller. ÜBER UNS DAS ALL hieß 2011 das großartige Debüt von Jan Schomburg, ein Drama, das schon beim ersten Sehen immer wieder neu beginnt. Das den Zuschauer in seiner Wachheit gefangen- und ernst nehmen will, das Rätsel produziert und die Lösungen verschweigt, das munter anreißt und nie bis zur Eindeutigkeit vorprescht. Verstörung? Gewollt!
Und jetzt? Wieder eine Frau. Ein toter Mann. Vielleicht eine Lüge. Und Sandra Hüller. ANATOMIE EINES FALLS heißt der neue Film der Französin Justine Triet, ein Drama, das ... – siehe Absatz Eins.
Auch das mit der Doppelung von „Frau“ und „Sandra Hüller“ steht hier ganz bewußt. Denn wenn die Hüller eine so komplexe Konstellation zu spielen hat, in der man sich als Zuschauer eben nicht sehr schnell in ihre Figur einlesen, sie in wenigen Zügen kennenlernen und dann einfach auf dem eingeschlagenen Kinoweg dorthin verfolgen kann, wo die Urheber sie hinhaben wollen, dann zeigt sich das Können der Aktrice im ganzen Ausmaß. Dann öffnen sich Welten, kleine und große, versteckte und offene Scheunentore auch. Dann spielt Hüller Spektrum. Für Triet ist es nach SIBYL – THERAPIE ZWECKLOS das zweite Mal, hier aber neu ausgerichtet, denn Exzentrik geht dieser Rolle ab. Völlig.
Sandra spielt Sandra, eine deutsche Schriftstellerin, die mit ihrem französischen Mann Samuel und dem gemeinsamen 11jährigen Sohn Daniel in einem Holzhaus in den Alpen bei Grenoble wohnt. Es hat Gründe, und es war mal anders. Gerade ist eine junge Studentin zu Gast, die ein Rechercheinterview über die inspirativen Quellen von Sandra Voyters Arbeitsweise wagt, auf Englisch, das sich als eine Art Zwischensprache auch fürs Zusammenleben der Familie herausstellen wird. Die Befragte stellt sich souverän, gar keß und ein wenig rotweinselig den Fragen. Bis unterm Dach karibische Musik grell zu blöken beginnt. In Schleife. Die Steeldrums scheppern ins Ohr, gefolgt von heftigen Geräuschen von Hämmern und Schleifen. „Das ist mein Mann, er arbeitet oben“, sagt Sandra. Und bald schon liegt er unten, eine Blutlache suppt um seinen Kopf, Daniel hat ihn gefunden, und noch während Sandra den Notdienst ruft, der nichts mehr ausrichten wird, tänzelt von Etage Eins aus makaber weiter die Bacao Rhythm & Steel Band. So viel Musik wird nicht mehr sein in diesem Film.
Triet will nicht mehr ablenken. Fokussiert auf eine Handvoll Personen, komponiert sie stilsicher und zwingend ihr Werk, das zu weiten Teilen im Gerichtssaal spielen wird, diesem so heiklen wie verführerischen Drehort, wo schon große Momente der Kinokunst inszeniert wurden und solche zehrenden Gähnens. Triet betritt Gattung Eins. Denn die logische Anklage Voyters nach einem Jahr, angefüllt mit akribischen Verhören, Analysen und Fall-Studien, führt zur Zustandsbeschreibung einer Ehe, einer Dreierkonstellation, von Umständen eines modernen Lebens. Der juristische Prozeß wird zum Prozeß privaten Entblätterns. Wo die Staatsanwaltschaft so gern einen Mord sehen würde, die Verteidigung auf Unfall plädiert und Suizid nicht ausschließt, wo justiztechnisch also das Übliche in eine weitgehend überraschungsfreie Zone läuft, interessiert sich ANATOMIE EINES FALLS immer weniger für den direkten Fall. Spätestens seit Michael Haneke wissen wir, daß es sich auch mit dem Ungewissen bestens leben läßt.
Absolut brillant setzt Triet immer wieder neue Haken und Häkchen an den richtigen Stellen dieser Tour de Psyché, wechselt Perspektiven, wobei der Schwenk auf den durch einen Unfall sehbehinderten Sohn von besonderer Güte ist, auch durch das feinsinnige Spiel von Milo Machado Graner, der als Daniel vor Gericht plötzlich eine wirklich massive Draufsicht auf seine Eltern bekommt, die ihn zum Schütteln bringt. Wobei die einzige echte Rückblende, angesteckt im wahrsten Sinne durch einen USB-Stick mit Tonaufnahme, den dramaturgischen Höhepunkt des ganzen Films setzt. Ein Film, der diesem sich ausblendenden Kinojahr noch einmal Akzente verleihen sollte.
[ Andreas Körner ]