Originaltitel: UNGA ASTRID

S/DK/D 2018, 123 min
FSK 6
Verleih: DCM

Genre: Biographie, Drama

Darsteller: Alba August, Trine Dyrholm, Magnus Krepper, Henrik Rafaelsen

Regie: Pernille Fischer Christensen

Kinostart: 06.12.18

6 Bewertungen

Astrid

Die einsame Kämpferin

Es ist unmöglich, sie nicht zu kennen. Selbst jenen, die zu Kinderzeiten ihre Geschichten verpaßten. Denn Astrid Lindgren hat nicht nur zahlreiche Bücher geschrieben, einige ihrer Figuren haben es gar zu Weltruhm geschafft. Da ist natürlich Pippi Langstrumpf, die auf der Suche nach ihrem Vater die Weltmeere durchstreift. Ronja verleitet zwei verfeindete, rauhbeinige Räuberhäuptlinge zur Freundschaft, schließlich verbringen Lisa, Lasse und Bosse aus Bullerbü in Schweden lange vor IKEA eine unbeschwerte Kindheit. Mit all ihren Figuren schaffte es Lindgren auf ganz unpathetische Weise, das Gute und Verbindende als die Essenz des Menschseins herauszukitzeln und damit Kinderseelen zu berühren.

„Liebe Astrid, ich frage mich, wie Du so gut darüber schreiben kannst, ein Kind zu sein“, sagt ein kleiner Junge aus dem Off, während eine alte Frau säckeweise Leserpost öffnet. Am Anfang des Films sieht man jene bekannte Schriftstellerin, weltberühmt, deren Bücher in über 60 Sprachen übersetzt worden sind. Doch diese Einstellung bildet nur den Rahmen für ASTRID.

Denn die schwedische Regisseurin Pernille Fischer Christensen vermeidet es, sich am ganzen großen Leben der Schriftstellerin abzuarbeiten, sondern konzentriert sich auf ihre prägenden Jahre als Mädchen und junge Frau. Und die sind alles andere als unbeschwert. Gerade 18 und frischgebackene Volontärin bei der örtlichen Zeitung, wird sie von ihrem viel älteren Chef schwanger – ein Skandal im Schweden der 20er Jahre. Um alles geheim zu halten, zieht sie vom Land in die Stadt. Für Astrid Lindgren ist dies der erste, abrupte Bruch mit ihren Eltern, die sie selbst als religiös, streng, aber liebevoll beschrieben hat. Ihr Kind kommt heimlich zur Welt und vorerst bei einer Pflegemutter unter. All das tut Astrid in der Hoffnung, den gesellschaftlichen Schaden für den verheirateten Geliebten abzuwenden. Doch der Preis, den sie dafür zahlt, ist hoch.

Man kann es regelrecht nachfühlen, wie es für die junge Mutter ist, ihr Neugeborenes allein zurückzulassen, um „unversehrt“ ins heimatliche Dorf zurückzukehren. Die Schwedin Alba August spielt diese gebeutelte und zerrissene Astrid glaubhaft und leidenschaftlich. Ganz nah bleibt die Regisseurin an den Geschehnissen, zeigt die körperlichen und seelischen Folgen dieser Trennung, verliert sich bewußt in Details.

Was andernorts langweilig erscheinen könnte, verdeutlicht hier die Tragweite jener Geschehnisse, die Astrids Leben für immer prägen werden und es unmöglich machen, einfach zur Normalität zurückzukehren. Und was ist eigentlich Normalität? Weitere Monate gehen ins Land, und der Graben zwischen Mutter und Kind wird tiefer. Während ihre Mutter empfiehlt, den Sohn zu vergessen, bleibt Astrid sich treu. Sie ist die einsame Kämpferin gegen die eigene Familie und die Konventionen der Zeit.

Diese emotionalen Berg- und Talfahrten bebildert Regisseurin Christensen unaufgeregt und eindrücklich: ein winterlich verschneites Schweden in seiner Leere und Endlosigkeit, mittendrin die reglose Astrid. Und natürlich geht es dabei um verhinderte Mutterliebe, vielmehr aber um eine tief empfundene Empathie für diejenigen, die auf Hilfe und Zuneigung angewiesen sind. „Er ist jetzt ganz allein auf der Welt“, sagt Astrid, als sie erfährt, daß die Pflegemutter ihres kleinen Sohnes krank ist. Dabei ist sie selbst im Zweifel, eine gute Mutter zu sein.

Für ihr humanistisches Denken ist Lindgren mehrfach ausgezeichnet worden. Und dieses zutiefst Menschliche kommt in diesem Film wunderbar zum Ausdruck. Für viele von Lindgrens Geschichten mag diese Zeit eine Inspirationsquelle gewesen sein: die starke Pippi, die sich ohne Eltern durchschlägt, oder Rasmus, der auf der Suche nach Geborgenheit dem Waisenhaus entflieht.

Christensen hat der großen Schriftstellerin kein filmisches Denkmal gesetzt, vielmehr hat sie den Vorhang aufgerissen und den Menschen hinter der Künstlerin gezeigt. Das ist große Kunst.

[ Claudia Euen ]