Originaltitel: SUR L’ADAMANT

F/J 2022, 109 min
FSK 0
Verleih: Grandfilm

Genre: Dokumentation

Regie: Nicolas Philibert

Kinostart: 14.09.23

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Auf der Adamant

Geankert!

Gestern, sagt Mireille, hätten Italiens Fußballer im Schießelfmetern verloren, und nie würde es einem in den Sinn kommen, über diesen kleinen sprachlichen Unfall auf denunzierende Weise zu lachen. Trotzdem lacht man – mit, nicht über Mireille. Das Leben ist halt so oder sollte so sein, und manchmal setzt es aus, beginnt zu haken und zu schlingern, und dann ist es gut, wenn es da jemanden gibt, der einem hilft. An einem Ort, der nicht nur symbolisch zum Anker wird, weil er selbst vor Anker liegt, ist es besonders gut. Willkommen an Bord, willkommen AUF DER ADAMANT!

Der schwimmende, 650 Quadratmeter große Flachbau, der nicht nur zufällig an ein Holzschiff erinnern soll, ist seit 13 Jahren am Seine-Ufer vertäut, dem Quai de la Rapée. Er dient als psychiatrische Tagesklinik, und es sieht schon imposant aus, wenn sich dort die Fensterläden allmorgendlich hydraulisch öffnen und die „Kajüten“ vom Licht durchflutet werden. Das regt an. Zum Malen und Nähen, Lieder schreiben und Singen, Marmelade kochen, zum Kassensturz in der selbst organisierten Buchhaltung oder zum launigen Solo auf der E-Gitarre, zum schlichten Schwatz beim Kaffee mit denen, die kommen und gehen und bleiben. Einen Filmklub gibt es auch.

Rituell werden die Neuen begrüßt, Patienten, Betreuer, Therapeuten, Psychologen. In Sachen Struktur ist die Adamant kein Solitär, sondern Bestandteil eines psychiatrischen Verbunds mitten in Paris. Trotzdem, so wird schnell klar, ist sie etwas Ausgefallenes, weil Spezielles. Logistisch sowieso, aber auch vom Konzept her, das sich weitestgehend aufgeschlossen zeigt, integrativ, kulturell – einladend menschlich.

Bei SEIN UND HABEN-Regisseur Nicolas Philibert, dem einfühlsamen wie behutsamen Beobachter und Zuhörer, ist die Adamant in den besten dokfilmischen Händen. Weil seine Neugier auf Menschen ansteckt, wenn er sie – Philibert bewegt sich nicht wie ein Reflexjournalist auf den Planken – im Mut zum Öffnen bestärkt und nicht zum Werkzeug eines Pamphlets über Mißstände macht. Daß der 72jährige die Psychiatrie längst als bevorzugtes, weil unerschöpfliches Betätigungsterrain für sich abgesteckt hat, spürt man in den Präferenzen seiner stilistischen Entscheidungen. Er will das Porträt. Für ihn ist Psychiatrie „eine Lupe, die viel über unsere Menschlichkeit aussagt.“ Also auch darüber, wenn sie systemisch mehr und mehr zu fehlen scheint.

[ Andreas Körner ]