ÁOjo! würden die Spanier rufen. Aufgepaßt! heißt es für uns, denn mit der mittlerweile sechsten Kinofilmregie des noch jungen Regisseurs Fatih Akin offenbart sich etwas, was Akin von der neuen deutschen Regiewelle doch ein ganzes Stück abhebt: hier perfektioniert sich ein ohnehin großes Talent, hier steht ein gereifter Geschichtenerzähler kurz vor seinem Meisterstück, hier drängen sich Vergleiche auf, die der bescheidene Akin sicher von sich weisen würde: Almodóvar, Moretti, Ozpetek. Herausragende europäische Meister des Erzählkinos nehmen Fatih Akin mit diesem klugen, feinfühligen, in Episoden erzählten Kinostück in ihre Mitte.
Und all das, weil Akin sich auf den Ursinn des Kinos konzentriert und eine Geschichte erzählt, die ihm entspricht, die Schicksale und Orte verbindet, die vergleichen kann, die dabei zwar eine Geisteshaltung seines Schöpfers verrät, aber weit entfernt von gar politischer Wertung steht. Schon das ist eine Glanztat bei einem so sensiblen Thema, das sich auch um die Frage dreht: Wie weit weg ist die Türkei von Europa? Doch wie gesagt, Akin ist Geschichtenerzähler, kein Politiker, und sein Film gehört zum derzeit aufregendsten des europäischen Kinos. Akin bringt Menschen in seinem Film zusammen, die zusammen gehören, denen aber - wie man so gern und lapidar sagt - die Umstände ein Bein stellen, Menschen, die sich nicht erreichen können, wenn doch, dann oft zu spät.
Yeter zum Beispiel, die stolze Hure, die ihrer Tochter Ayten aus Hamburg in die Türkei neben Geld fürs Studium Schuhe schickt, die das Mädchen glauben lassen sollen, eine rechtschaffene Mutter zu haben. Yeter verdingt sich beim alten Ali, dessen Sohn Nejat Deutschprofessor ist. Im Streit mit Ali verunglückt Yeter, Nejat verstößt Ali, weil jemand der mordet kaum sein Vater sein könne. Nejat reist in die Türkei, um Ayten zu finden ... Hier zeigt sich auch in interessant geschnittenen Bildern das Talent Akins zur lyrischen Verdichtung, wenn immer wieder das Schiff über den Bosporus fährt, in wechselnde Richtungen. Ayten ist doch längst in Deutschland, auf der Flucht, da sie in der Türkei politisch aktiv ist. Sie trifft auf Lotte, die beiden werden ein Paar. Ein schönes Paar übrigens, und Akin zeichnet diese Liebe mit viel Kraft, Wut und Zärtlichkeit, zu der auch sinnlich gefilmte Frauenküsse gehören. Doch das ständige Krafterproben zwischen Menschen, zwischen Ländern, zwischen Kulturen geht weiter, da sich Lotte mit ihrer Mutter überwirft, als sie der mittlerweile ausgewiesenen Freundin nachreist, um sie aus dem Gefängnis zu holen. Für Lotte wird die Reise gen Osten eine leidenschaftliche, wenn auch die letzte sein ...
Bilder wie der Transfer der Särge, quasi menschliche Fracht zwischen Europa und Asien, diese klug montierten Wiederholungen, jene Bilder bleiben für immer haften. Das sind so Almodóvar-Momente, die an Manuelas Zugfahrten zwischen Madrid und Barcelona in ALLES ÜBER MEINE MUTTER erinnern. Auch Akins Sicht auf die Frauen erinnert an den iberischen Kollegen, ohne zu kopieren: aber wie der Hamburger in Hanna Schygullas uneitles, so endlos müdes Gesicht schaut, wie er dem traurigen Blick dieser einzigartigen Nursel Köse und wie er den leuchtenden Augen der Jungverliebten folgt - das ist atemberaubend, das ist künstlerisch erwachsen, da hat Akin so etwas wie eine innere Ruhe gefunden, die einem das "echte Sehen" erst möglich macht. Keiner also, der mit neumodischen Kniffen so ein bißchen aufs Gaspedal treten muß, der Clips neu erfindet, die schon im ersten Ausprobieren sich selbst erschöpfen. Nein, in Akin erleben wir einen ehrlichen Erzähler, einen Freund der großen Bilder, der seinen Figuren schöne Namen gibt: Yeter bedeutet "Es reicht" und Ayten gar "Mondhaut". Wir Deutschen heißen Lotte und Susanne.
Und diese Pole finden zusammen, nicht ohne Narben, nicht per Diktat, dafür mit Gefühl, Hoffnung und - weil sie für die Balance zwischen dem jetzigen Europa und der Türkei so bitter notwendig sein wird - mit Geduld.
D 2007, 127 min
Verleih: Pandora
Genre: Drama, Liebe
Darsteller: Hanna Schygulla, Nursel Köse, Patrycia Ziolkowska
Regie: Fatih Akin
Kinostart: 27.09.07
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.