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Baby

Philipp Stölzls orgiastisches Kinodebüt als blutgetränkte Odyssee und erstklassiges Ausnahme-Kino

Der Mann ist das pure Dynamit auf zwei Beinen. Während über Franks fleischigem Gesicht noch ein leicht strapaziertes Lächeln verweilt, blubbert es bei ihm schon sehr tief und grollend in der Magengrube, da vibriert unterm Tisch die Faust, da versteinert die klägliche Vernunft. Diese Erfahrung mußte auch der farbige Junge Tommy machen. Da Frank vermutete, daß Tommy mit seiner halbwüchsigen Tochter Lilli eben nicht nur Schularbeiten gemacht, sie vielmehr fies geschwängert hat, stellt Frank ihn zur Rede. Die provokante Antwort Tommys schwebt noch in den Schallwellen, und schon hat der Knabe Blei im Hirn. Frank kommt in den Knast, und sein bester und schüchterner Freund Paul, mit dem er seit dem Unfalltod ihrer Frauen Lilli aufzieht, sieht zu, daß er Land gewinnt. Auch er hat - ja, eigentlich versehentlich - beim Technik-Klau im Mediamarkt einen Wachmann weggeballert und sich kurz darauf von Lilli verführen lassen. Das Kind ist von ihm, meint die Göre, und schon hat er sie an der Backe, im geliehenen Auto geht’s nach Holland, dort, wo diese hypnotische Kinoirrfahrt begann. Doch Frank wäre nicht Frank, wenn Knastmauern für ihn ein echtes Hindernis bedeuteten ...

Auch wenn’s ausgelutscht klingt, hier stimmt’s tatsächlich: so etwas hat es im deutschen Kino noch nicht gegeben. Der Werbefilmer Philipp Stölzl hat einen auf sämtliche Erzähl-Konventionen pfeifenden Genrebastard, ja, einen ordentlich gegen den Strich gebürsteten Kino-Orkan geschaffen. Liebesfilm, Coming-of-Age-Story, Roadmovie und Kleinganoventhriller vermischen sich zu einer blutgetränkten Odyssee, in der Typen nur aus dem Bauch heraus handeln, in der Ratio so logisch scheint wie Wasser in der Wüste. In einem satten Cinemascope gelingen dem Clipguru Stölzl Bilderwunder, die mitunter ebenso an epische Western erinnern, wie sie wohl in ihrer einmaligen Dichte das deutsche Kino universell gültig erscheinen lassen.

Ein ganz glückliches Händchen hatte Stölzl mit der Im-letzten-Moment-Besetzung Lillis durch das Ausnahmetalent Alice Dwyer. Die perfekte Symbiose aus Lolita, Teufelsweib, Unschuldslamm und Powertante. In ihrem juvenilen Gesicht schwebt die Schwere der Welt, die Sanftheit des Traumes und die Impression gewordene Sinnlichkeit der Jugend.

Schaut diesen Film, entspannt euch im Kino, werft sämtliche Betulichkeiten über Bord und glaubt endlich das Unglaubliche: ja, das ist deutsches Kino!

D 2002, 104 min
Verleih: Kinostar

Genre: Drama, Roadmovie

Darsteller: Lars Rudolph, Filip Peeters, Alica Dwyer, Fedja Van Huet, Catherine Flemming

Regie: Philipp Stölzl

Kinostart: 26.02.04

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.