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Babycall

Verstörung auf allen Frequenzen

Die neue Wohnung fällt eher unter die Kategorie Bleibe, selbst wenn hier offenbar kaum einer lange genug geblieben ist, um so etwas wie Persönlichkeit zu hinterlassen. Zweizimmerküchebad in einem Gespinst von Korridoren in einem Häuserblock in einem Randviertel von Oslo. Anna und ihr 8jähriger Sohn seien hier geschützt, meinten die vom Sozialamt, der Vater werde die neue Adresse nicht erfahren. Doch Anna will sicher gehen, überprüft Schloß und Türkette, verhängt die Fenster und weicht Anders auch im Schlaf nicht von der Seite. Zur Schule läßt sie ihn nur auf Drängen der Fürsorger, denen sie lieber nicht verrät, daß sie auch dort ganz in seiner Nähe bleibt. Als die Beamten schließlich verlangen, Anders solle im eigenen Bett nebenan schlafen, kauft Anna ein Babyphon, um den Jungen wenigstens atmen zu hören.

Vorhänge, Türen, Riegel, Ketten – nicht in Worten, sondern im Modus ihrer ultimativen Abschließbarkeit führt uns der norwegische Filmemacher und Fotograf Pål Sletaune in die Welt seiner Hauptfiguren, in der Noomi Rapace ihre Anna glänzend als ein einziges Ausweichen und stummes Befürchten spielt. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen war wohl selten ein Filmterrain so gefährdet, so beängstigend fragil in seinen Umrissen und in einem so denkwürdig oszillierenden Widerspruch zur sozialrealistischen Anmutung seiner Bilder. Seltsame Störungen treten auf: Eine eben noch fest verriegelte Tür steht sperrangelweit offen. Der See, den Anna mit Anders besuchen wollte, ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Das Babyphon überträgt Geräusche und Kinderschreie aus dem ganzen Haus. Wenigstens dieses Phänomen kann der Technikmarktverkäufer Helge, der allmählich zu Annas einzigem Vertrauten wird, einigermaßen erklären – ärgerliche, aber stinknormale Interferenzen.

Aus ebenjenen minimalen Verschiebungen und haarfeinen Überlagerungen von widersprüchlichen Wirklichkeiten, allesamt freundliche Leihgaben aus der Spielkiste des Thrillers, ist Sletaunes dramaturgische Eskalations- und Verstörungsmaschine aufgebaut. Die man freilich kaum hört, so subtil und leise mischt sie sich unter den trügerisch gedämpften Alltagssound dieses gedanklich, ästhetisch und emotional überzeugenden Dramas über Verlust, Angst und den subjektiven Charakter jeglicher Realität.

Originaltitel: BABYCALL

Norwegen/S/D 2011, 95 min
FSK 16
Verleih: NFP

Genre: Drama, Thriller

Darsteller: Noomi Rapace, Vetle Qvenild Werring, Kristoffer Joner

Regie: Pål Sletaune

Kinostart: 12.07.12

[ Sylvia Görke ]