Schon Schlagertante Nicole warnte einen imaginären Freund davor, bloß nicht zu hoch zu fliegen. Sie erinnerte ganz bestimmt die griechische Mythologie, Nicole - gewiß eine Kennerin des Kretischen. Doch die Warnung davor, daß einem passieren kann, was einst dem Ikarus geschah, verhallte zwischen den klagend angeschlagenen Saiten ihrer Friedensgitarre, und so erreichte Nicole auch nicht Martin, unseren Helden an den Turntables, dem diese intensiv erzählte Geschichte gewidmet ist.
Martin hetzt durch die Welt, von Mugge zu Mugge, größer, weiter, lauter, krasser ... denn wo ordentlich am Plattenteller gezaubert wird, da schneit es auch mitunter weiß vom Kokshimmel, da pfeift der Wind aus der Ketaminecke, da raschelt es bewußtseinsbetäubend auf dem Crack-Cyrstal-Rasen. Martin, der als DJ Ickarus allabendlich in den Klubs dieser Welt Menschen um den Verstand und zum Tanzen bringt, ist ein Gejagter seine Zunft. Allenfalls am T-Shirt-Wechsel und am vom Dunkel ins Hell gleitenden Rollkoffer sieht man, daß auch bei ihm der Tag auf die Nacht folgt. Martin rennt und rennt und rennt. Daß in derartiger Eile auch die Aufnahmen am neuen Album leiden, wischt er mit einem rotzigen "Mein Kram rockt und Ende!" weg. Die Plattenchefin hört’s nicht gern und haut ihn raus. Später wird Ickarus ihr Büro verwüsten, doch da ist er nach einem totalen Kurzschluß längst in Behandlung. Bei Dr. Petra Paul, einer resoluten Frau, die ihm tatsächlich Hilfe anbietet. Doch so einer wie Ickarus, dieser berlinernde Hansdampf, hört eh nicht auf andere, weder auf seinen religiösen Vater, noch auf seine ihn managende Freundin. Wenn es mal wieder schief ging am Abend, und er völlig verwirrt aufgefunden wird, hat er die treffenden Worte parat: "Schräge Abfahrt jestern ..."
Hannes Stöhrs Geschichte vom Rise’n’Fall eines DJs ist ein bemerkenswertes Stück Kino geworden. Bemerkenswert schon deshalb, weil es ein derart authentisches Porträt eines technoiden Künstlers im Kino noch nicht gab, weil es Stöhr und Anne Fabini, die den exzellenten Schnitt verantwortete, aufs Perfekte verstehen, genau das Gefühl zu vermitteln, wie aus Beats, Vibes, Krach, aus großen, hymnischen elektronischen Harmonien und deren Versatzstücken eine Kraft entstehen kann, die einen fast aus dieser Welt zu tragen vermag. Eine Kraft, der man gegebenenfalls wenig entgegenzustellen hat, woraufhin man Hilfe sucht, auch in chemischen Substanzen. Und gottlob ist Stöhr kein Mahner, der mit Papas Stimme "Hände weg von Drogen" warnt, er beobachtet still, er taucht ab in das ureigene Universum von Nachtschattengewächsen wie Ickarus.
Und Stöhr macht seinen strauchelnden Helden trotz künstlicher Welt und dem dazugehörigen Macho-Gehabe ganz menschlich: Martin wird die Liebe seines Vaters suchen, der ältere Bruder ist ihm zum Schluß näher, weil auch er einen Schlußstrich unter ein ziemlich ödes Leben ziehen wird. Und dann wird ihm auch die Labelchefin bestätigen, daß seine Arbeit wieder Saft hat. Gut auch, daß sie ihm den Titel seines kommenden Erfolgsalbums ausredet: "Titten, Techno, Trompeten" mag für eine kleine dankbare Klientel des Dorfschwofs die richtige Ansprache sein, ernsthaftere Musikliebhaber freuen sich dann doch, daß Berlin ruft ...
D 2008, 105 min
FSK 12
Verleih: Movienet
Genre: Drama, Musik
Darsteller: Paul Kalkbrenner, Corinna Harfouch, Rita Lengyel, RP Kahl, Max Mauff
Regie: Hannes Stöhr
Kinostart: 02.10.08
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.