Wenn man einen in der Aquarellmalerei eifrig dilettierenden Bekannten auf die Probe stellen will, sei eine Postkarte mit dem wohl berühmtesten Beuys-Zitat empfohlen: „Jeder ist ein Künstler.“ Sollte der Erprobte sich freudig aufgenommen fühlen im Olymp der genialen Kreativen, dann wechseln Sie den Bekanntenkreis. Sollte er seine blaßfarbenen Blumenstilleben beleidigt sehen, dann entkräften Sie den Verdacht durch Ankauf eines Bildes für den Flur. Aber sollte er Ihnen im Gegenzug Schriften von Marx zukommen lassen oder einen Hasen oder eine Schmalzstulle, dann laden Sie ihn ein: zu Andres Veiels klugem Doku-Exkurs über die fruchtbare Irritationskraft der Kunst von Joseph Beuys. Denn vor allem der setzt dieser Film ein Denkmal.
Veiels Dokumentarfilme, unter denen BLACK BOX BRD (2001) der thematisch eindrücklichste und DIE SPIELWÜTIGEN (2004) der vielleicht eingängigste ist, mögen in ihrem Blick auf konkrete Lebenswege diese erste, tatsächlich als Biographie eingeführte Arbeit vorbereitet haben. Aber das zugefallen Biographische stand und steht immer im Dialog mit dem mutwillig Gestalteten zwischen Fakten wie „geboren“ und „gestorben.“ In dieser dialektischen Disziplin hält Joseph Beuys bis heute sämtliche Rekorde.
Zu den schillerndsten Legenden gehört die vom Künstler selbst hartnäckig verbreitete, auf Nachfrage in bunten Farben ausgeschmückte Geschichte über die Krimtataren, die den jungen Wehrmachtsoffizier 1944 nach einem Flugzeugabsturz über Feindgelände mit Fett und Filz am Leben hielten – und sich damit zu märchenhaften Mitbegründern seiner materialen, spirituellen und theoretischen Vorlieben verklärten. Andres Veiel erzählt die Geschichte mit, weist auf ihr fragiles Verhältnis zur Wirklichkeit hin – und läßt diese Fragilität stehen: als Teil einer künstlerischen Praxis, in der die Realität, die persönliche wie die gesellschaftliche, gestaltbarer Stoff wurde.
Beuys’ Objekt „Badewanne“ von 1960, dem angeblich zwei putzwütige SPD-Funktionärinnen mit Bürste und Seife zu Leibe rückten, ging, auch als Anekdotenquell, in die westdeutsche Kunstgeschichte ein. Er raufte für seine amerikanischen Anhänger mit einem Kojoten und für seine Studenten mit dem bildungspolitischen Establishment. Seine Environments zählten auf Schiefertafeln die „letzten Tage des Kapitalismus“ herunter. Sein 1972 in Kassel ausgefochtener Boxkampf „für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“, in dem der mittlerweile etablierte Düsseldorfer Professor für Monumentalbildhauerei gegen einen Zweifler antrat, brachte die Prügelei als gültigen Austausch von schlagenden Argumenten in den ach so gepflegten kritischen Diskurs zurück.
Sein documenta-Projekt „7000 Eichen“ trug 1982 den ökologischen Gedanken in die Kunst hinein und das Kunstwerk aus der musealen Präsentation heraus. Er stellte sich bei den Grünen zur Wahl und bei den Ratlosen zur Diskussion. Und wurde, so scheint es, kaum einmal müde.
Um ein weiteres Zitat zu bemühen: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Ausnahmsweise stammt der Ausspruch nicht von Beuys, sondern von Karl Valentin. Trotzdem stimmt er – für diesen Künstler, der im „sich verschleißen“ seine natürlichste Aufgabe sah, erst recht für Andres Veiel, der dem exzentrischen Selbstverbrenner ohne Feuerschutz begegnet. Es gibt keinen Off-Kommentar, der flatternde Lehrsätze von der „sozialen Plastik“ oder vom „erweiterten Kunstbegriff“ didaktisch vermitteln würde. Es gibt keine Ausstellungskuratoren, die das Œuvre mit aller exegetischen Gewalt ausbeinen könnten. Stattdessen sprechen wenige enge Freunde, zum Beispiel über einen als Spektakelschamane, Unsinnstifter und Mythenhuber verunglimpften Mann, der ihnen eigentlich sehr vernünftig vorkam.
Die lauteste Stimme aber hat bei Veiel das Material – Tondokumente, Werkfotos, Selbstauskünfte, Film- und Fernsehschnipsel, Kontaktabzüge mit Perforationsrändern, ein läutendes Telefon, das Apparate-Piepsen der Intensivstation. Das Arrangement ist so großzügig wie zwingend, durchaus sogar musikalisch. Und mag es auch um die Konventionen der Biographie herumtanzen wie Beuys um den Präriewolf – es hält doch etwas fest, für ihn und für sich: eine dynamische Bewegung, ein Suchen nach Form und Haltung.
D 2017, 107 min
FSK 0
Verleih: Piffl
Genre: Dokumentation, Biographie
Stab:
Regie: Andres Veiel
Drehbuch: Andres Veiel
Kinostart: 18.05.17
[ Sylvia Görke ]