Gleich zu Beginn denkt man: Ach nö, nicht schon wieder die Nummer! Doch das wäre zu früh gestöhnt, denn trotz des direkten Blicks in diese untertassengroßen, mokkafarbenen Kulleraugen – für die Audrey Tautou nun wirklich nix kann – wird das Amélie-Schema gottlob nicht wieder aufgegossen. Trotz der Namensähnlichkeit. Denn diese Émilie, ihres Zeichens Friseursalonbesitzerin, ist in der Tat kein einfach so an die Brust zu drückender Wonneproppen, sie hat regelrecht fiese Züge, sie hat es gewissermaßen faustdick hinter den schwarzumlockten Öhrchen. Doch was hat sie getan?
Weil sie sich für Maddy schämt, ihre Maman, die das Ausleben aller Traurigkeit einer verlassenen Frau vordergründig kultiviert, weil Émilie immerzu will, daß alles heil ist, daß alles genau so läuft, wie sie es sich erdenkt, schickt sie ihr einen Brief. Daran ist noch nichts Schlimmes, nur hat sie den Brief einfach weitergeleitet. An sie selbst war er adressiert, romantisch, poetisch, wie aus dem 18. Jahrhundert. Doch die gestreßte Unternehmerin hat für solchen Kokolores keinen Nerv, der Brief fliegt in den Müll, dann wird er neu adressiert, in der Hoffnung, Mama käme durch den anonymen Schreiber auf bessere Gedanken. So anonym ist der Verfasser der Zeilen aber nicht, das Publikum weiß längst mehr – Jean, Hausmeister des Salons, hat ihn geschrieben, weil es ihn vor Liebe fast zerreißt.
Entzückend ist an sich ein schreckliches Wort, und doch erwischt man sich dabei, daß einem dieses in den Sinn, in den Bauch und nun in die Feder kriecht, weil einen die Märchenhaftigkeit, das Zuckrige des Films doch schnell in Beschlag nehmen. Wo bitte, wenn nicht im Kino, soll man denn noch aufrichtig seufzen, so ganz tief in der Gefühlspfütze planschen können? Na also! Aber: Pierre Salvadori, der auch schon den herrlichen Spaß APRÈS VOUS mit Daniel Auteuil drehte, nutzt diese gut gemeinte Intrige nur als Startschuß für eine fabulöse Komödie. Denn natürlich werden weitere Briefchen folgen, natürlich kommen erst Jean und dann Maddy selbst dem Trick auf die Schliche, aber der Weg dahin legt Gefühle frei: Zu Maddys Traurigkeit gesellen sich kurz Euphorie, dann pure Lust und schließlich Wut, bei Jean ist es verletzter Stolz, und bei Émilie selbst purer Aktionismus, töchterlicher Kummer und schließlich – jawohl – l’amour!
Gespickt ist dieses herzrührende Kinostück auch mit messerscharfen Dialogen, die an die Dispute von Spencer Tracey und Katherine Hepburn erinnern, gerade wenn der enttäuschte und schließlich bissige Jean zurückzischt: „Ich nehme Gereiztheit wahr!“ Schöner Klamauk wird aufgefahren, wenn die im Salon nächtigende, jede Menge Wodka vernichtende Émilie mit der Büroklammer am Kopp in den Tag torkelt, und man dann überlegt, welch schweres Stück man hätte serviert bekommen können, da es um doch durchaus deftige Lügen, Verletzungen und pure Hinterhältigkeit geht, dann staunt man einmal mehr, mit welcher Leichtigkeit, geradezu tänzerisch hier von Liebe auf Umwegen erzählt wird.
Und letztendlich ist es doch Maddy, die strahlend und hier in einer geradewegs akrobatischen Seilnummer den Film verläßt, hingegen für den Rest der Bande festzuhalten ist: Jeans Augen naß, Émilies Augen naß, unsere Augen naß ...
Originaltitel: DE VRAIS MENSONGES
F 2010, 105 min
FSK 0
Verleih: Capelight
Genre: Komödie, Liebe
Darsteller: Audrey Tautou, Nathalie Baye, Sami Bouajila
Regie: Pierre Salvadori
Kinostart: 19.01.12
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.