Originaltitel: DI JIU TIAN CHANG
China 2019, 185 min
FSK 6
Verleih: Piffl
Genre: Drama, Familiensaga
Darsteller: Wang Jingchun, Yong Mei, Qi Xi, Wang Juan, Du Jiang
Regie: Wang Xiaoshuai
Kinostart: 14.11.19
Bitte tun Sie sich selbst einen Gefallen und hören sofort auf, diesen Text zu lesen. Investieren Sie stattdessen drei Stunden Ihrer Zeit und ausgezeichnet angelegtes Geld für den Besuch oben genannten Films. Ganz großes Kino, schwindelerregend, atemberaubend. Halten Sie Taschentücher bereit, unbedingt, denn Sie werden erst verstohlen Ihre Augen tupfen, bevor das Stadium entfesselten Wischens folgt. Garantiert.
Da Sie aber hartnäckig und immer noch hier sind, nun ein paar weitere Informationen. Fragmente einer Handlung, deren volle Kunstfertigkeit nur das eigene Erleben transportieren kann, optimalerweise doppelt, zu reichlich fürs erste Mal die dargebotenen Gelegenheiten des Entdeckens, Fühlens und Einordnens, zu üppig die Mosaiksteinchen, welche sukzessive parallel mehrere erzählende Puzzles zusammensetzen, bezwingend unbeirrt, ohne Abzweige oder erholende Verschnaufpausen. Und alles beginnt mit dem Tod.
Es stirbt Xingxing, halbwüchsiger Sohn des Paares Yaojun und Liyun, eng einer zweiten Familie verbunden. Schuld lastet bleischwer auf zerbrechlich schmalen Schultern, führt zum Zerreißen der einst so robusten Bande zwischen den Erwachsenen, Yaojun und Liyun versuchen, die Leere zu füllen, adoptieren einen Jungen, ziehen schließlich weg. Dahin, wo sie keiner kennt, ihr Dialekt auffällt, man die Fremden zumindest neugierig beäugt. Vergessen? Ausgeschlossen. Davonlaufen funktioniert indes gleichfalls nicht, und so pulsiert die Vergangenheit fortwährend als unverheilte Wunde, die getrennten Familien sehen sich irgendwann wieder …
Bis es zum an emotionaler Intensität unmöglich zu überbietenden Treffen kommt, geschieht unglaublich viel darin, daß eigentlich wenig passiert. Regisseur Wang Xiaoshuai läßt das Leben geschehen, fern hektischen Eindampfens, Zugeständnissen an die moderne Hast; braucht ein Kochvorgang drei Minuten, sind wir drei Minuten dabei. Und gebannt. Weil hinter gefalteten Stirnen Gedanken brodeln, müde Blicke zeigen, wie energiezehrend das sein mag, zuckende Mundwinkel baldige Ausbrüche ankündigen. Die dann letztlich sehr beherrscht stattfinden, fast entschuldigend traurig etwa bekunden, man sei einer Trennung gegenüber offen. Geradezu unerbittlich dazu manche entschleunigte Kamerafahrt, die es einer Person oder Sache erlaubt, ins komponierte Gesamtbild praktisch einzudringen, nahezu destruktiv, technisch makellos, inszenatorisch perfekt.
Unvermittelt das Aufbrechen, ausgelassenes Feiern zu „Rivers Of Babylon“, heimlich natürlich, die Obrigkeit bleibt lieber draußen, Gerüchte über Hinrichtungen wabern. Und Wang bündelt jetzt doch glatt 30 Jahre Geschichte, nutzt Ein-Kind-Politik und leeres Politgeschwätz à la „Die Zeit der leeren Reisschalen ist vorbei!“ einerseits zur kritischen Obduktion – kommunistische Marktwirtschaft, ein eklatanter Widerspruch – und schlägt damit andererseits neue Pfosten in den Unterbau seiner stetig komplexeren, trotzdem unverändert hoch fragilen, tief intimen Saga. Ihrer finalen halben Stunde entrinnt man kaum blessurenfrei: Zu welcher Kraft Menschen die Fähigkeit besitzen, welche Opfer sie bringen können, entfesselt eine im besten Sinne zerstörerische, stark erschütternde, verbal unbeschreibliche Wucht. Schon allein dafür gebührt Wangs Meisterwerk der Eintrag im cineastischen Lehrbuch, inklusive jenes Herzensbrechers, zitiert aus unzähligen: „Ist es nicht lustig, daß wir immer noch Angst haben zu sterben?!“
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...