In Lichtspielhäusern waren schon viele erste Begegnungen von Menschen zu sehen, denen der Atem stockt und das Herz zerreißt. Wenn Blicke schreien könnten, sie hätten es getan. Als selbst der Cineast glaubt, daß es kaum noch Facetten in der Darstellung dieser Momente geben sollte, kommt Adèle. Es geschieht auf der Straße, in größter Hektik, wenn die Gefühle besonders unerwartet ihre Keulen schwingen. Die 17jährige will gerade mit einem gleichaltrigen Jungen ausgehen, da sieht sie – eine Frau. Emma ist Kunststudentin und hat blaue Haare.
BLAU IST EINE WARME FARBE hieß noch LA VIE D’ADÈLE, als die Hauptdarstellerinnen im vorsommerlichen Cannes die Palme gewannen, und sich die Filmwelt einig war, von Regisseur Abdellatif Kechiche ein Meisterwerk gesehen zu haben. Doch der neue Titel ist keine der sonst üblichen Frakturen, zu denen sich besonders deutsche Verleihe hinreißen lassen. Es ist schlicht der Name des Comics, auf dem die zutiefst berührende Geschichte lose ruht. Was heißt hier ruht? Sie läßt einfach nicht los in ihrer Direktheit, ihrer unverstellten Darstellung von Leben, Liebe, Sex und Schmerz, sie reißt zwangsläufig mit, wem als Zuschauer Loslassen gegeben. Für die erste Reihe der Kinosäle ist sie allerdings nicht gemacht, denn Kechiche benutzt mehr fiebrige Großeinstellungen als Totalen. Er will keine Distanz, sondern Haut und Körper, schlafende genauso wie Rotz und Wasser heulende, nackte und bekleidete, er will Münder, Nasen, Augen. Besonders Adèle Exarchopoulos, aber eben auch Léa Seydoux haben sie ihm geschenkt. Der große, jüngst verstorbene Patrice Chéreau meinte genau dieses Natürliche, das Echte, als er nach seinem grandiosen INTIMACY immer auf „sprechende Körperlichkeit“ verwies.
Das mit dem Jungen ist schnell wieder vorbei. Adèle hat mit ihm geschlafen, es sei sogar gut gewesen, sagt sie, mehr um ihn und sich zu bestätigen. Es war an der Reihe. Die Mädchen in der Klasse machen Druck, erst recht, als sie erfahren, daß Adèle mit ihrem schwulen besten Freund Valentin in einer Homo-Bar gewesen ist. Daß sie dort Emma wiedergesehen, mit ihr gesprochen und sich bei ihr etwas im Herz eingenistet hat, sagt sie nicht. Adèle wird durch- und durchgeschüttelt. Freie Lust auf das, was kommen mag und mit Emma schon ist, reibt sich mit dem, was Adèle nur schwer verkraften kann: Versteckspiel, Unsicherheit, Angst vor dem Lesben-Stigma und davor, die verschiedene soziale Herkunft könnte zum Bruch führen, statt daß die Welt von Emmas Künsten die Liebe wirklich bereichert.
BLAU IST EINE WARME FARBE fließt durch gemeinsame Jahreszeiten. Manchmal ist es nur eine kleine äußere Veränderung, die die Charaktere neu verortet. Erst will Adèle Lehrerin werden, dann ist sie es. Emma trägt nicht mehr blau, die Gespräche sind tief, dann oberflächlicher, Fallen lauern, Gräben. Und mit dem letzten großen Zeitsprung kommt ein Drama zu seinem Ende, das im Dezember des „französischen“ Kinojahres den Geist des Januars und damit des überwältigenden DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN aufnimmt. Zwei Filme, die sich vielleicht für immer festkrallen.
Originaltitel: LA VIE D’ADÈLE, CHAPITRES 1 & 2
F 2013, 179 min
FSK 16
Verleih: Alamode
Genre: Drama, Liebe, Schwul-Lesbisch
Darsteller: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Salim Kechiouche, Mona Walravens
Regie: Abdellatif Kechiche
Kinostart: 19.12.13
[ Andreas Körner ]