• Meinungen

Blindsight

To See Or Not To See Is Not The Question

BLINDSIGHT ist ein Dokumentarfilm über sechs blinde tibetanische Kinder, die mit einem ebenfalls blinden Bergsteiger und einer blinden Tibetologin einen 8.000er im Mount-Everest-Massiv besteigen wollen. Kennt man nur diese Fakten, schwant einem Fürchterliches: Das kann doch nur ein Mitleid triefendes Melodram sein, oder? Wer sich überwindet und diese durchaus angebrachten Zweifel beiseite läßt, wird Zeuge einer wagemutigen Expedition, deren Besonderheit wenig mit der schwindelerregenden Höhe des Gipfels, aber viel mit den Fähigkeiten blinder Menschen zu tun hat. Sabriye Tenberken, die vor knapp zehn Jahren in Tibet im Alleingang die erste Blindenschule des Landes eröffnete, gibt auch für die Expedition das Motto vor: "Blinde können (fast) alles, was Sehende auch können." Für die Expedition auf den Lhakpa Ri gewann Tenberken als Partner den amerikanischen Bergsteiger Erik Weihenmayer, der vor einigen Jahren als erster Blinder den Mount Everest bestiegen hat. Zusammen mit einem Team erfahrener (sehender) Bergsteiger, die die sechs Kinder begleiteten, und dem Filmteam machten sie sich auf den beschwerlichen und gefährlichen Weg.

Die Doku folgt zunächst der quasi naturgegebenen Dramaturgie des Aufstiegs, verlagert den Fokus aber sehr bald von dramatischen Abgründen, Steinlawinen und Wetterumschwüngen in die Zelte hinein, in denen die Kinder und ihre Begleiter über den Fortgang der Expedition sprechen - und streiten. Die Höhenkrankheit breitet sich aus, und bei einigen Kindern lassen die Kräfte rapide nach. Die Frage nach dem Abbruch der Expedition steht auf der Tagesordnung. In dieser Situation kristallisiert sich heraus, daß nicht alle das gleiche Ziel haben: Die einen wollen den Gipfel erreichen, um den Kindern das Gefühl geben, es geschafft zu haben - wenn nicht allen, dann doch wenigstens den Stärksten unter ihnen. Die anderen sorgen sich um das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe und hadern mit der Verantwortung, die sie für die Kinder tragen.

Es ist dem sensiblen Blick Lucy Walkers zu verdanken, daß diese kleinen zwischenmenschlichen Nuancen nicht zwischen beeindruckenden Naturaufnahmen und den berührenden Lebensgeschichten der Kinder untergehen, sondern letztlich das Herz des Films ausmachen. Und es sind die Kinder selbst, die zum Schluß ein überzeugendes Plädoyer für die uralte Weisheit liefern, die besagte, daß der Weg das Ziel sei, und man das Ziel zwar aus den Augen, aber niemals aus dem Sinn verlieren sollte.

[ Luc-Carolin Ziemann ] Carolin hat ein großes Faible für Dokumentarfilme, liebt aber auch gut gespielte, untergründige Independents und ins Surreale tendierende Geschichten, Kurzfilme und intensive Kammerspiele. Schwer haben es historische Kostümschinken, Actionfilme, Thriller und Liebeskomödien ... aber einen Versuch ist ihr (fast) jeder Film wert.