Die Idee des Kaplans eines texanischen Gefängnisses war ganz einfach: Die Todeskandidaten sind doch bewiesenermaßen schlechte Leute, die natürlich in der Hölle schmoren werden. Vielleicht finden sie aber doch noch Erlösung, wenn man ihnen nahe legt, ihren Körper für gute Zwecke, das heißt der Wissenschaft zu vermachen. Ob der Häftling Joseph Paul Jernigan auf diese Weise der Gesellschaft das zurückgeben wollte, was er im Leben nicht wieder würde gut machen können, weiß niemand. Mit Sicherheit aber ahnte er nichts davon, daß er nach seiner Hinrichtung statt in der Hölle in 1767 hauchdünne Scheiben zerschnitten, sozusagen komplett mit alles, im Internet landen und als "Visible Man" Berühmtheit erlangen würde.
Was nach einem schlechten Horrorstreifen klingt, ist ein authentischer Fall aus dem Jahre 1993. Spannend aufbereitet und ohne direkte Kommentierung fängt der Dokumentarfilm Zeugenaussagen und atmosphärische Eindrücke zum Fall Jernigan ein und legt einiges Bedenkenswertes offen. Zwei Sachkomplexe werden dabei parallel behandelt: ein Gerichtsprozeß, in dem der persönliche Hintergrund des Mörders ungenügend geprüft wurde und viele Beteiligte, von der Familie bis hin zur Verteidigung, schlichtweg überfordert waren. Und ein durchaus gewagter Vorstoß in der Wissenschaftsgeschichte: die virtuelle Erfassung, Veröffentlichung und Animierung des menschlichen Körpers, mit dem zweifelhaften Ehrgeiz, ihn gezielt zu optimieren.
In beiden Fällen werden ethische Grenzen berührt. Die Verknüpfung zu ziehen und über die Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit beider Verfahren zu urteilen, bleibt weitgehend dem Zuschauer überlassen, obwohl der Film durchaus einen Standpunkt einnimmt: im Zweifelsfall für den Angeklagten. Etwas zu kurz kommt die Rolle der Öffentlichkeit. Nur so viel erfahren wir: Die von den Wissenschaftlern erwartete Welle der Empörung blieb aus. Die Medien stilisierten Jernigan zum Serienkiller, der endlich seine wahre Bestimmung gefunden hat. Gab es gar keine Diskussion um die Wahrung der Persönlichkeit?
Vielleicht sind die computergenerierten Bilder graphisch einfach zu hübsch anzuschauen. Der Horror wirkt dennoch. Gerade dann, wenn Sachlichkeit ins Spiel kommt. Schwerer als die Körperwelten sind die ausführlichen Schilderungen des Mordes und der Hinrichtung zu verdauen. Sowie die von wissenschaftlichem Eifer begleitete Erläuterung des technischen Verfahrens, mit dessen Hilfe der Körper des unwürdigen Mannes millimetergenau zerkleinert und abfotografiert wurde.
CH 2000, 85 min
Verleih: b.film
Genre: Dokumentation
Regie: Kaspar Kasics
Kinostart: 29.04.04
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...