Originaltitel: BUÑUEL, UN CINEASTA SURREALISTA

Spanien 2021, 87 min
FSK 12
Verleih: Neue Visionen

Genre: Dokumentation, Biographie

Regie: Javier Espada

Kinostart: 10.10.24

Noch keine Bewertung

Buñuel: Filmemacher des Surrealismus

Eine aragonesische Giraffe

Der Buñuelismus ist eine Sonderform der Cinephilie. Vermutlich leidet Javier Espada bereits seit Kindertagen an dieser unter Kinoverrückten gar nicht so seltenen Krankheit, denn er stammt aus Calanda, jenem Städtchen in Aragón, das den Filmerneuerer Luis Buñuel zu seinen berühmtesten Söhnen zählt. Der Ort, vielleicht auch die stolze Autonomie der Region, ganz sicher jedoch der erotisierende Lust-Schuld-Komplex des Katholizismus hispanischer Prägung wurden zu Säulen des Buñuel-Universums – und das Buñuel-Universum wurde zum Monothema von Espada. 16 Jahre lang lenkte er die Geschicke des Centro Buñuel de Calanda, gründete zu Ehren des Verehrten ein Filmfestival, kuratierte europaweit Ausstellungen. Betrachtet man Espadas übersichtliches Schaffen als Dokumentarist, erweist es sich allerdings eher als berufliches Nebenfeld, als Verstärker für seine große Botschaft: Schaut auf diesen Buñuel!

Nun kommt auch Espadas jüngster Film zum epochemachenden Filmemacher in unsere Kinos – mit einer Verzögerung, die auf seltsame Art zum Inhalt paßt. Als Anfang 2020 die Eindämmungsmaßnahmen zur Corona-Pandemie Menschen dazu brachten, ihre Wohnungen um- und aufzurüsten, ihre Schränke, Dachböden und Keller zu beräumen, trug der „stillgelegte“ Experte das in Jahrzehnten gesammelte Denk- und Vorführmaterial seiner Buñuel-Besessenheit zu einer Art Bilanz zusammen: die durch ein Jahrhundert-Œuvre wandernden fixen Ideen als fixierte Spuren surrealistischer Welterfahrung. Begegnungen, Fotos, Texte, Kommentare, gespiegelt und nachvollzogen im Paukenschlagdebüt EIN ANDALUSISCHER HUND (1929) bis zu DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE (1977).

Espadas Buñuel-Schau braucht eine Zeit, um Bio-, Filmo- und Historiographie zu verschränken. Sie ist zu sorgfältig geordnet, um selbst surreale Kinoerfahrung zu werden. Aber die Ordnung zeugt von Phantasie, sie greift einen Spielmechanismus auf, den Buñuel 1933 im Auftrag von André Breton und mit bildnerischer Unterstützung von Alberto Giacometti entwickelte: die Flecken einer Holzgiraffe, gestaltet als Interaktionsfenster. Wer Espadas Sichtachsen auf Werk und Künstler folgt, wird manch’ fast zur filmhistorischen Folklore geratenes Motiv mit anderen Augen sehen lernen.

[ Sylvia Görke ]