„Was Shakespeare schrieb“, sagte einmal Peter Brook, der ein Shakespeare-Regisseur erster Güte ist und es wissen muß, „ ... ist nicht Interpretation: Es ist die Sache selbst.“ Klingt cool, aber bedeutet was? In CÄSAR MUSS STERBEN staunt mit fast kindlicher Ungläubigkeit ein Mann – ein Neapolitaner – darüber, wie gut dieser Shakespeare die Neapolitaner verstanden, durchschaut hätte. Und das, obwohl er doch räumlich und zeitlich um einiges von diesem Neapel entfernt lebte, aus dem unser staunender Mann stammt. Den nun wiederum mehr als lediglich dieser geographisch-zeitliche Aspekt von Shakespeare trennen dürfte. Sitzt er doch seit Jahren als Schwerkrimineller in einem italienischen Gefängnis.
CÄSAR MUSS STERBEN, der Film der Brüder Paolo und Vittorio Taviani, ausgezeichnet mit dem Goldenen Bären 2012, versucht Kunst an einem Platz, wo man sie gemeinhin nicht erwartet. Im Knast nämlich. Und nicht um irgendeine Kunst geht es dabei, sondern um die absolute Oberliga. Um Shakespeare und dessen Stück „Julius Cäsar“, das hier mit Gefängnisinsassen, mit, sagen wir es ganz klar, Verbrechern auf Bühne und Leinwand gebracht wird, von denen keiner lediglich wegen Ladendiebstahls einsitzt. Was ihre Physiognomien durchaus ahnen lassen.
Und so sind es diese Gesichter, in die aus gutem Grund immer wieder lange und konzentriert geschaut wird. Gleich zu Beginn, zum Casting, wenn die Männer sich erst traurig-sanft, dann zitternd vor Wut vorstellen sollen. Und später auch, wenn sie immer tiefer in ihre Rollen sinken. So wie auch dieser Film aus dem dokumentarischen Beobachten von Proben und Gefängnisalltag tiefer und tiefer in die Julius-Cäsar-Handlung sinkt. Die Grenzen sind bald verwischt. Und Shakespeares Stück ersteht in ungeheurer Präsenz – und zwar ohne modernisierend „Aktualität“ beweisen zu müssen. Was eh eher was fürs Feuilleton und das deutsche Regietheater ist. Liefern die doch nur Interpretationen – hier aber geht es um die Sache selbst. Das heißt: um alles. Um die Aufhebung der Grenzen, die Raum, Zeit und Sozialisation ziehen.
Wie diese Männer vor der Kamera, auf der Bühne dabei ihre Shakespeare-Figuren geradezu absorbieren, all die Stückthemen verhandelnd, Loyalität, Macht, Verrat und Gewalt, die auch ihr Leben bestimmen, entspricht einem Prozeß der Emanzipation und Erkenntnis. Welche unmittelbare Kraft echter Kunst innewohnt – dieser Film zeigt es in unglaublich komprimierten 76 Minuten.
Originaltitel: CESARE DEVE MORIRE
I 2012, 76 min
FSK 6
Verleih: Camino
Genre: Dokumentation, Drama
Regie: Paolo Taviani, Vittorio Taviani
Kinostart: 03.01.13
[ Steffen Georgi ] Steffen mag unangefochten seit frühen Kindertagen amerikanische (also echte) Western, das „reine“ Kino eines Anthony Mann, Howard Hawks und John Ford, dessen THE SEARCHERS nicht nur der schönste Western, sondern für ihn vielleicht der schönste Film überhaupt ist. Steffen meint: Die stete Euphorie, etwa bei Melville, Godard, Antonioni oder Cassavetes, Scorsese, Eastwood, Mallick oder Takeshi Kitano, Johnny To, Hou Hsia Hsien ... konnte die alten staubigen Männer nie wirklich aus dem Sattel hauen.